Dornenkuss
wie damals in der schäbigen Turnhalle, in der Lars mich Tag für Tag geknechtet hatte – und wie auf Trischen, als Colin mich an meine Grenzen schickte und wir uns trotzdem liebten.
Alles war noch da. Jede Bewegung, jede Wendung, jedes Atmen. Es offenbarte sich mir in dem Moment, in dem ich mich entschlossen hatte, es zu versuchen. Ich musste nicht ein Mal nachfragen oder innehalten und überlegen, was als Nächstes kam. Versunken und in konzentriertem Schweigen vollführten Lars und ich unseren Schattenkampf, unterbrochen nur durch unsere Kampfschreie, seiner wie ein Bellen, meiner rau, aber kraftvoll, bis wir synchron zum Stehen kamen und die Brandung kalt unsere Knöchel umspülte.
»Geht doch. Und jetzt ab ins Bett mit dir. Komm mich mal besuchen in Hamburg, dann trainieren wir ein bisschen, ja? Und grüß Blacky von mir. Nacht, Stürmchen. Tut mir echt leid, das mit deinem Papa.«
Er drückte mir einen kratzigen Kuss auf die Wange, schlug mir noch einmal unsanft auf die Schulter und stapfte o-beinig und vor sich hin pfeifend durch den Sand davon. Nachdem ich – lächelnd, nicht weinend – zurück ins Haus gelaufen war, war ich todmüde ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen.
Ach, Lars, dachte ich nun, als ich unsere nächtliche Trainingseinheit Revue passieren ließ. Du lieber, bescheuerter Gorilla. So dumm war er nicht, wie ich anfangs gedacht hatte. Ich zweifelte zwar daran, dass er auch nur einen Hauch von dem begriffen hatte, was oben in der Sila passiert war, aber mir auszumalen, wie er Angelos Haus niedergefackelt hatte, war eine rührende Vorstellung. Und wenn er erwischt worden wäre, wäre er für mich eingesessen, ohne auch nur einen Moment zu bereuen, was er getan hatte.
Es war gut, dass er mich entgegen Mamas Ratschlag doch noch aufgesucht hatte. Und es war gut, dass ich die Kata gemacht hatte, zusammen mit ihm. Irgendwann würde ich wieder anfangen zu trainieren. Irgendwann …
Ich döste noch ein Weilchen vor mich hin, bis sich das Tuckern des Volvos wieder näherte, er in unserer Einfahrt hielt und sein Kofferraum übervorsichtig geöffnet und geschlossen wurde.
»Merda«, hörte ich Gianna flüstern, als sie kurz darauf mit einer raschelnden Einkaufstüte an meiner Türklinke hängen blieb. Sie brauchte Minuten, um sie wieder davon zu lösen. Selbst ein Komapatient wäre dabei aufgewacht.
Klapper, klapper, zur Küche, wo sie in einer Schublade wühlte, dann wieder klapper, klapper, zu mir. Sie räusperte sich unterdrückt. Mit einem Auge beobachtete ich, wie die Klinke sich nach unten bewegte und die Tür sich langsam öffnete.
»Happy birthday to you …« Summend schob Gianna sich hinein, auf ihrer ausgestreckten Hand ein winziges Schokoladentörtchen mit einer rosa-weiß gestreiften Kerze in der Mitte. »Tanti auguri a te … Happy birthday, liebe Ellie, happy birthday to you!«
»Nein.« Mein Herz begann zu stolpern.
»Doch!« Gianna tänzelte beschwingt auf mich zu. »Herzlichen Glückwunsch, Elisa. letzt bist du neunzehn. Und die Sonne scheint! Geburtstag mit Schönwettergarantie, das gibt’s nur in Süditalien! Ein neuer heißer Tag beginnt …«
»Das kann nicht sein.«
»Der zweiundzwanzigste September, oder? Und der ist heute.« Gianna stellte das Törtchen auf meinem Nachttisch ab und setzte sich an mein Fußende. »Ja, es ist Zeit vergangen … Die anderen haben beschlossen, dass wir dich nicht an deinen Geburtstag erinnern und ihn nachholen, sobald es dir besser geht, aber ich bin Italienerin! Ich kann das nicht. Ich muss wenigstens gratulieren!«
»Wozu denn?«, fragte ich hoffnungslos. »Da gibt es nichts zu gratulieren.«
Wir hatten September … Ich hatte so etwas befürchtet, aber es zu wissen, überforderte mich. Ich war nicht in Feierlaune. Ich war es vergangenes Jahr schon nicht gewesen. Kurz zuvor war Colin geflohen, sodass ich mich an meinem Geburtstag in mein Zimmer verkrochen und mein Telefon ignoriert hatte. Nicht einmal meine Mails hatte ich abgerufen – erst am nächsten Tag, in der haltlosen Hoffnung, es sei eine von Colin dabei. Auch heute würde ich ihn nicht bei mir haben können.
»Es ist nicht nur dein neunzehnter Geburtstag, Elisa. Du bist vor einer Woche zum zweiten Mal zur Welt gekommen. Du kennst doch den Song … geboren, um zu leben, für den einen Augenblick, bei dem jeder von uns spürte, wie wertvoll Leben ist …«, sang Gianna liebevoll. »Und ich finde, es ist Zeit, diesen Gedanken auch in deinem Erscheinungsbild zu
Weitere Kostenlose Bücher