Dornenkuss
breit gezinkten Holzkamm und sprühte ihn mit Conditioner ein.
»Ich will mich aber nicht sehen.«
»Ach so. Va bene. Du willst dich nie wieder sehen? Dann wäre es wirklich das Beste, wir schneiden sie einfach ab, das geht auch ganz schnell, wir könnten Pauls Barttrimmer nehmen, der ist …«
»Gianna, ich kann nicht! Ich fürchte mich vor dem, was ich sehen werde!«
»Es gibt nichts zu fürchten. Außerdem ist das alles sowieso schon die ganze Zeit da, ob du es dir nun ansiehst oder nicht.« Resolut ergriff sie meine Schultern und drehte mich auf dem kleinen Hocker herum, bis meine Gestalt im Spiegel vor mir auftauchte. Sofort ließ ich meine Lider fallen.
»Ellie«, sagte Gianna mahnend.
»Ich tu es ja, ich tu es, aber lass mir Zeit! Ich hab mich wochenlang nicht mehr angesehen.« Ich wollte nicht mit dem Gesicht beginnen, sondern mit dem, was mir etwas weniger fremd vorkam. Meinem Körper. Ich öffnete widerstrebend den Bademantelgürtel und ließ den weichen Frottee von meinen Schultern rutschen.
»Ach, du Heiliger …«, murmelte ich verlegen.
»Ja, da ist eine Intimfrisur fällig«, entgegnete Gianna treffend. »Wobei ich es nicht schlimm finde. Ehrlich. Du bist kein Kind und das kann man ruhig sehen.«
»Alle haben es gesehen … oh Scheiße …« Ich wickelte den Bademantel wieder um meine Hüften.
Gianna kämpfte vergeblich gegen ein Schmunzeln an, obwohl sich auch Mitgefühl in ihrem Gesicht breitmachte. »Falsch. So haben alle wenigstens nicht alles gesehen. Dein Schatzkästlein war hübsch verpackt.«
Hübsch verpackt. Na, das war wohl Geschmackssache. Wann hatte ich damit angefangen, mich zu vernachlässigen? Mitte Juli? Dann war es kein Wunder, dass ich aussah wie eine Neandertalerin. Argwöhnisch griff ich unter meine Arme und an meine Beine, doch ich entdeckte keine weiteren Vogelnester. Erklären konnte ich es mir nicht, aber das war auch nebensächlich. Die Verlegenheit über meine Körperbehaarung war nichts im Vergleich zu meiner Scheu, in mein eigenes Gesicht zu sehen.
Wie in Zeitlupe hob ich meinen Blick. Im ersten Moment sah ich nur Haare und Augen. Schräge, helle Augen mit einem dunkelblauen Ring, der die Iris umrandete; um die Pupille herum grünlich, dann graublau, dazwischen winzige gelbe Sprenkel. Sie leuchteten mir so stark und grell entgegen, dass ich mich für ein paar Sekunden abwenden musste, um erneut aufsehen zu können und mich meinen Haaren zu widmen. Ich wusste nicht, wie Gianna es schaffen wollte, sie zu entwirren. Sie hatten Kletten gebildet und waren verfilzt, dazwischen lockten sich goldglänzende Strähnen, gebleicht von der Sonne, die sich mit sich selbst verknotet hatten, kein Scheitel mehr, nur noch Wirbel und Wellen – ich hatte ein Schlangenhaupt bekommen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die Babyvipern immer noch darin lebten, obwohl ich mich gut daran erinnerte, wie ich sie in einen Garten neben dem Krankenhaus gesetzt hatte, in das Paul uns gebracht hatte. Wir hatten uns alle leichte Rauchvergiftungen und Brandblasen zugezogen, die dringend versorgt werden mussten. Nur Gianna war ohne eine einzige Verletzung oder Schramme davongekommen. Dafür war sie diejenige gewesen, die auf der Rückfahrt dreimal in die Büsche gekotzt hatte.
»Waren die schon immer so?«, fragte ich und deutete auf meine Augen.
»Eigentlich schon. Du warst nur noch nie so braun gebrannt, seit ich dich kenne … Dadurch strahlen sie stärker als sonst aus deinem Gesicht heraus. Eine optische Täuschung.«
»Das ist alles?« Ich konnte es nicht glauben. Ja, ich war dunkel geworden und trotz meines Eremitendaseins in den vergangenen Tagen war ich es auch geblieben, ein schöner, sanfter Bronzeton, unterbrochen nur von den Abdrücken meines Bikinis. Trotzdem hatten meine Augen noch nie einen solch intensiven Schimmer gehabt. Allerdings hatte ich mich auch noch nie so lange nicht angesehen. Ich entdeckte mich gerade neu und es war weniger erschreckend, als ich gedacht hatte, abgesehen von dem Wildwuchs zwischen meinen Schenkeln und dem Chaos meiner Haare. Bald hätte ich eine Karriere als Reggaesängerin starten können. Oder als Voodoo-Priesterin?
»Ich hab dir schon mal gesagt, dass du einen irre angucken kannst, Ellie. Ich hab aber nie gedacht, dass du irre bist.«
»Sicher? Das glaube ich dir nicht, Gianna. Du musst es gedacht haben in den letzten Wochen, oder? Hab ich denn … hab ich gestunken?« Plötzlich war das meine größte Befürchtung. Dass ich gestunken hatte.
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