Dornenkuss
Serotoninmangel steigert die Wirksamkeit von Kokain als positivem Verstärker.« Und auf einer anderen Seite las ich: »Serotoninmangel kann in Extremfällen sogar zu dem Wunsch führen, Kokain zu konsumieren.« Ich fand diese These zwar nicht sehr wissenschaftlich, denn wie sollte jemand den Wunsch verspüren, Kokain zu nehmen, der von dessen Effekt gar nichts ahnte? Dieser Wunsch konnte nur dann entstehen, wenn der Betroffene sowieso schon einmal von der Wirkung des Kokains profitiert hatte. Wie Tillmann. Er hatte Kokain geschnupft, um wach zu bleiben, als wir François filmen wollten. Er kannte die Wirkung. Er hatte behauptet, dass ein Mal nicht ausreiche, um abhängig zu werden. Ich hatte ihm geglaubt. Aber damals hatten wir beide noch nicht gewusst, dass er unter chronischem Serotoninmangel litt. Ich würde ein Auge auf ihn haben müssen.
Doch nun waren andere Maßnahmen dringender. Lars erreichte ich auch beim fünften Versuch nicht, er schaltete auf stur. Also kam nur eine frühere Abreise infrage. Ich fühlte mich von Kopf bis Fuß elend und eigentlich außerstande, stundenlang im Auto zu sitzen. Ich hatte Fieber, Halsschmerzen, hustete wie ein räudiger Hund und vor allem hatte ich Schnupfen. Doch Lars’ Wille herauszufinden, von welchem Kampf ich gesprochen hatte, war mir nicht geheuer. Wir mussten abhauen, bevor er hier sein würde. Meine Recherchen waren ohnehin wieder in einem Strandhotel stagniert, das mich beinahe den Schnupfen hatte vergessen lassen, weil es auf mich wie ein Ort wirkte, an dem man selbst die größten Probleme und die schlimmsten Enttäuschungen auskurieren konnte. Weiße Liegestühle unter Schatten spendenden Pinien, ein eiförmiger Pool mit Wasserspielen und goldenen Fliesen auf dem Grund, im Hintergrund das Meer … Blumen überall … Je eher wir unsere Pflichten hinter uns brachten, desto schneller würde ich all das genießen können. Denn meine Erkältung hatte meinen Wunsch, mich zu erholen, nur noch drängender werden lassen – und auch meine Wut, die in mir wucherte, wann immer sie einen Grund fand. Leider wurden diese Gründe immer nichtiger.
Entschlossen wählte ich Tillmanns Nummer. Ein Gutes hatte sein Serotoninmangel. Er war fast immer wach und er hatte in seiner typischen Gerissenheit Dr. Sand zu einem Attest überredet, in dem dieser dazu riet, Tillmann für einige Wochen der Sonne des Südens auszusetzen, da Licht und Wärme einen günstigen Einfluss auf die Serotoninausschüttung hätten. Meine Recherchen hatten mir das sogar bestätigt. Eine Tageslichtlampe hätte zwar einen ähnlichen Effekt, aber mit diesem Attest hatte Tillmann seinem Vater die Erlaubnis abringen können, mit uns nach Italien zu fahren. In den Urlaub, wie er behauptete. Herr Schütz willigte ein, weil er glaubte, dass Mama uns begleiten würde. Unglücklicherweise glaubte Mama das auch. Wenigstens schien Herr Schütz nicht der Meinung zu sein, ebenfalls sein Köfferchen packen zu müssen. Doch das konnte mich kaum trösten. Von wegen, Colin hatte Mama manipuliert … Was auch immer die beiden bei ihrer Gartenbesichtigung besprochen hatten: Mama sah nach wie vor nicht ein, uns alleine nach Italien aufbrechen zu lassen.
Uns waren jedoch ein paar Tage geblieben, sie zu überreden, denn Gianna wollte noch einmal nach Hamburg fahren, um einige Unterlagen aus der Redaktion zu holen und ihre Wohnung aufzulösen. Gestern war bereits Pauls Umzugswagen gekommen und hatte seine Sachen gebracht, die wir mit vereinten Kräften in den Keller geräumt und dabei schon einmal kräftig sortiert hatten. Möglichst unauffällig bildeten wir zwei Abteilungen: eine sehr kleine, die mit auf die Reise gehen sollte, und eine andere, die wir erst einmal nicht brauchten. Zu der kleineren Abteilung gehörte auch der Inhalt von Pauls Apothekerschrank. Mir war bis dato nicht klar gewesen, dass Kleptomanie ebenfalls zu den Folgen eines Befalls zählte. Die Schubladen bargen nicht nur jene Schlaf- und Beruhigungsmittel, die mir nach Colins Erinnerungsraub zugutegekommen waren, sondern darüber hinaus hoch dosierte Antibiotika, Einwegspritzen, Operationsbesteck, Infusionen mit allerlei lebensrettenden Inhalten, ein mobiler Tropf samt Schläuchen, selbstauflösender Faden plus sterile Nadeln, kurz: ein gut ausgerüstetes Arztköfferchen für Erwachsene; das, wovon Paul in seinen frühen Jugendjahren immer geträumt hatte.
Gianna und ich konnten uns kaum von dem Inhalt der Schubladen losreißen. Paul hatte uns aufgetragen,
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