Dornenkuss
pelzigen Rücken setzte und ins Straucheln geriet, kreischte er empört auf und jagte mit gesträubtem Fell unter den Küchentisch.
»Scht!«, zischte ich, nachdem ich mein Gleichgewicht austariert hatte, ohne den Koffer zu verlieren. »Was machst du eigentlich hier?«
Rufus begann sich hektisch zu putzen. Er wirkte angepisst. Ich fragte mich, warum er auf der Treppe kauerte und ein Gesicht machte, als sei ihm der Teufel persönlich begegnet. Normalerweise verschlief er fünfundneunzig Prozent des Tages in Mamas Nähzimmer. Niemals würde er es freiwillig verlassen, wenn Gianna sich ebenfalls darin aufhielt. Vielleicht hatte Paul ihn rausgeworfen, weil die Katzenhaare sein asthmatisches Husten verschlimmerten.
Das Nähzimmer befand sich im gleichen Flur wie Mamas Schlafzimmer – zwar am anderen Ende, aber dicht genug, um äußerste Vorsicht walten zu lassen. Ich hielt inne und horchte argwöhnisch in mich hinein. Bahnte sich wieder ein Niesanfall an? Nein. Nein, im Moment nicht. Ich konnte es wagen.
Zusammen mit Rufus näherte ich mich schleichend dem Nähzimmer. Die Lichter im Flur waren gelöscht und ich glaubte, belanglos dahinplätschernde Entspannungsmusik zu hören, als ich mein Ohr an den Türspalt legte. Schliefen die beiden etwa schon? Paul hatte es sich in Hamburg zur Gewohnheit gemacht, zum Einschlafen Chill-out-Sampler abzuspielen. Nun gut, dann musste ich ihn und Gianna eben wecken, ohne allzu großen Lärm zu machen.
Langsam drückte ich die Klinke hinunter, als ich plötzlich Giannas Stimme vernahm – ein kurzer, prägnanter Satz, den ich nicht verstand oder vielleicht gar nicht verstehen wollte, doch Paul hatte ihn offenbar verstanden, denn er brach in schallendes Gelächter aus. Prima, dann hatte ich mich geirrt, als ich verstanden hatte, was ich nicht verstehen wollte, und konnte reingehen.
»Ach, du Scheiße …«
»Ellie!« Paul lachte immer noch, doch Giannas Gesicht war glühend rot angelaufen. Pikiert hielt sie sich die Decke vor die blanke Brust. Viel musste sie nicht verbergen. Ganz anders stand es um Paul, der allem Anschein nach gerade erst von ihr runtergepurzelt war und mir alles zeigte, was er so hatte. »Hör auf zu lachen«, blaffte Gianna ihn an und warf die Bettdecke über seine Scham.
»Oh Gott, Entschuldigung … tut mir leid …«, stotterte ich. Noch konnte ich mich nicht dazu überwinden, meine Augen wieder scharf zu stellen. Zum Glück hatte ich wegen meiner Erkältung auf meine Kontaktlinsen verzichtet. Trotzdem hatte ich zu viel gesehen. »Ich wusste nicht, dass ihr … wie dem auch sei … leiser, Paul, bitte. Wir müssen heute Nacht schon fahren. Lars hat angerufen, er ist auf dem Weg hierher. Wir müssen abhauen, bevor er ankommt und Mama einen Floh ins Ohr setzt«, stammelte ich flüsternd.
»Welchen Floh?«, fragte Gianna, die Pauls Lachen deutlich mehr zu ärgern schien als mein Hereinplatzen. »Hör doch mal auf, so lustig war es nicht. Es war eigentlich überhaupt nicht lustig.«
»Doch.« Pauls Bauch bebte immer noch. »Es war lustig.«
»Ich will es gar nicht wissen«, sagte ich schnell, bevor sie sich in Einzelheiten verloren. »Packt eure Koffer, wir müssen so schnell wie möglich abfahren. Tillmann weiß schon Bescheid. Los, aufstehen, anziehen, worauf wartet ihr?« Ich wusste, dass es auf ein oder zwei Minuten nicht ankam, doch endlich, endlich konnte ich etwas tun und musste nicht länger sinnlos im Web surfen.
»Willst du nicht vielleicht eine Ausbildung bei der Bundeswehr machen?« Gianna sah mich verbiestert an. Noch immer loderte die Röte in ihrem Gesicht und auf ihrem nicht vorhandenen Dekolleté prangten dunkle Flecken. »Dort kannst du von morgens bis abends Befehle austeilen und niemand stört sich daran. Was ist überhaupt so schlimm daran, wenn Lars kommt? Warum diese Hektik?«
Gianna gelang es nicht mehr, leise zu sprechen. Warnend legte ich meinen Zeigefinger an den Mund. Paul hatte sich beruhigt und hangelte mit den Zehen nach seiner Unterhose. Ich hob sie auf, um sie ihm zuzuwerfen. Geschickt fing er sie auf.
»Weil Lars sich an der Idee festgebissen hat, dass ich ein Geheimnis verberge, und er hat keine Ahnung, welche Dimension dieses Geheimnis hat. Trotzdem weiß er in diesem einen Punkt mehr als Mama. Ich hab ihm gegenüber angedeutet, dass ich draufgehen kann im Kampf gegen François, und anscheinend hat er kapiert, dass ich es ernst meinte. Wenn er mit Mama darüber redet und sie merkt, dass kein Missverständnis
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