Dornenkuss
Giannas Musik entflohen war, indem er seine iPod-Kopfhörer eingestöpselt und die Lautstärke bis zum Anschlag hochgedreht hatte. Möglicherweise empfand man Verucchio zu frauenfeindlichem Hip-Hop anders als ich.
Meine Enttäuschung erhielt neue Nahrung, als wir eine schmale Gasse erreicht hatten und Gianna Paul zeigte, wo er parken konnte. Richtige Parkplätze gab es hier nicht, aber immerhin eine Möglichkeit, den Volvo so dicht neben eine Mauer zu quetschen, dass wir allesamt auf der linken Seite aussteigen mussten. Doch noch stärker als die Enttäuschung fühlte ich Giannas Angst. Ich sah, wie sie angestrengt schluckte, als würde ihr gleich schlecht werden.
»Das hier ist es«, verkündete sie bedrückt. Oje. Das Haus ihres Vaters war zweifellos das schäbigste, heruntergekommenste Anwesen dieser ohnehin schmucklosen Gasse. Die Fassade bröckelte fleckig vor sich hin, das Dach sah verwittert aus und die Scharniere der zugeklappten Fensterläden waren von dickem Rost überzogen.
»Sieht doch ganz hübsch aus«, sagte ich optimistisch, obwohl ich das Gegenteil dachte, doch Giannas Angst ging mir so nahe, als gehörte sie zu meinen eigenen Gefühlen, und die bekamen bereits Gesellschaft von einer sehr ungesunden Wut, die sich wie ein Tsunami in mir aufbaute. Ich kam mir betrogen vor, betrogen um das, was ich erwartet hatte.
»Vielleicht gehe ich besser alleine rein und frage …«
Zu spät. Gianna blieb wie angewurzelt stehen, als ein kleiner drahtiger Mann mit kobaltblauen Augen und wirrem schwarzem Haar durch die Tür auf die Straße schoss und lamentierend auf sie zuwankte. Ja, er wankte. Entweder hatte er sich schon einen üppig bemessenen Aperitif genehmigt oder aber er litt unter einer Beinverletzung. Ich tippte auf den Aperitif, denn meine spontangeheilte Nase roch Alkohol.
Gianna ließ die merkwürdig dramatische Begrüßungszeremonie des Mannes klaglos über sich ergehen, obwohl er sie abwechselnd anschrie und dann wieder im Überschwang der Gefühle an sein Herz presste und in weinerlichem Ton »mia piccola bambina« nannte. Mein kleines Mädchen. Dabei überragte die hochgewachsene Gianna ihn um mindestens einen Kopf.
»Das ist Enzo«, stellte sie ihn uns betreten vor, nachdem sein Gefühlssturm sich gelegt hatte und er ihr die Gelegenheit gab, ebenfalls etwas zu sagen. Er drückte uns einem nach dem anderen die Hände, begleitet von lautstarken Worten, von denen wir nichts verstanden, doch er schien einiges an uns zu bemängeln.
»Was hat er denn?«, fragte ich Gianna unsicher.
»Ihr seid ihm nicht braun gebrannt genug.«
Erstaunt blickten wir uns an. Das war also sein Problem? Unsere mangelnde Sommerbräune?
»Süditaliener nehmen das sehr wichtig«, erklärte Gianna verlegen. »Für ihn sind wir Bleichgesichter.« Immerhin schloss sie sich ein. Sie wirkte in der Tat blutleer, ganz im Gegensatz zu ihrem Vater, dessen abbronzatura durch die vielen geplatzten Äderchen auf Wange und Nase Verstärkung bekam. Keine Frage, er war ein Trinker. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sein Zustand ein Zufall war – und Gianna war sein Auftritt sichtlich unangenehm. Sie erlebte ihn nicht das erste Mal in dieser Verfassung.
Ich hingegen musste meine Hoffnung, von ihm wertvolle Informationen oder Hinweise zu erhalten, begraben. Wieder eine Spur weniger. Ein weiterer Angstschauer, begleitet von schwarzer Wut, kroch mein Rückgrat hinauf, doch nicht weil ich mich schämte wie Gianna, sondern weil mir bewusst wurde, dass ich nichts in der Hand hatte. Meine Computerausdrucke hatte ich zu Hause gelassen, ebenso wie meinen Laptop und Papas Patientenakten. Sie hätten mir sowieso nichts gebracht. Alles, was ich besaß, war die abgegriffene Europakarte aus dem Safe. Giannas und mein Albtraum war wahr geworden, auch wenn wir beide vollständig bekleidet waren. Wir wollten nackt durchs Feuer rennen. Wir mussten irre sein.
Wieder griff Enzo nach Gianna und knetete ihre Wangen. Ich hatte mir gedacht, dass wir nicht einfach den Schlüssel abholen und uns verdrücken konnten, denn Gianna hatte ihren Vater lange nicht mehr gesehen und ich hatte darauf gebaut, die Zeit gut nutzen zu können und vielleicht nebenher ein erfrischendes Bad in der Adria zu nehmen. Doch mit Armut und Alkoholismus hatte ich nicht gerechnet. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte.
Nachdem Enzo kapiert hatte, dass Paul Giannas neuer Freund war – Grund genug, seine Tochter ein weiteres Mal vor den Blicken der auf der Straße
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