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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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fuhr er auf den Seitenstreifen und hielt wieder an.
    »Du«, sagte er streng und deutete auf die heulende Gianna, »reißt dich jetzt mal am Riemen, okay? Und du«, er deutete auf mich, »trinkst etwas, sonst halte ich bei der nächsten Raststätte, setze dich raus und rufe Mama an, damit sie dich abholt! Das meine ich ernst! Ihr macht mich völlig jeck, und das nur wegen einer mickrigen Blindschleiche!«
    »Es war eine Natter«, widersprach Gianna schwach. »Und ich hab zufällig schreckliche Angst vor Schlangen.«
    »Ach …«, schnaubte Paul wegwerfend. »Das war höchstens eine Babynatter. Trotzdem kein Grund, sie zu streicheln. Man streichelt keine Schlangen, Ellie! Sie mögen es nicht, wenn man ihre Haut berührt, das stresst sie. Ihr seid alle vollkommen überdreht. Ich sitze seit Stunden am Steuer, habe heute Nacht kein Auge zugetan und ihr raubt mir den letzten Nerv. Ich bin auch nicht gerade fit, falls ihr das noch nicht bemerkt habt!«
    Oh doch, das hatte ich bemerkt. Ich war sogar die Erste, die es bemerkt und, ohne zu zögern, ihr Leben für ihn riskiert hatte. Von seinem chronischen Phlegma hatte es ihn nicht befreien können. Leider. Dennoch nahm ich artig einen Schluck Wasser, um meinen Bruder zu besänftigen. Ich wollte nicht, dass er sich meinetwegen aufregte. Er hatte einen Herzfehler. Danke, François.
    »Tut mir leid, ich dachte, da ist etwas, ich … ich musste … ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was mit mir los war«, stotterte ich, während sich die Tränen in meinen Augen sammelten. Gleich würde auch ich anfangen zu weinen. Pauls Gesichtsausdruck wurde etwas versöhnlicher.
    »Dein Kreislauf ist zusammengebrochen. Da können die verrücktesten Dinge passieren. Ist schon okay, Schwesterchen.«
    Nein, das war es nicht. Ich wollte nicht behaupten, dass ich keine Kreislaufprobleme gehabt hatte. Aber da war noch etwas anderes gewesen. Wie eine Vorahnung. Das alles hatte eine Bedeutung gehabt, aber welche? Was hatte es mir zu sagen? Hatte es etwa mit Tessa zu tun? Hatte sie mich in dieses Haus locken wollen? Während ich in kleinen Schlucken trank und versuchte, ruhig und tief in den Bauch zu atmen, kam Tillmann langsam zu sich.
    »Was ist?« Er gähnte und rieb sich die Augen. »Warum stehen wir?« Doch niemand hatte Lust zu antworten. Was wir gerade erlebt hatten, war nur schwer in Worte zu fassen. Ich hatte die anderen in meinen eigenen Albtraum entführt. Ja, es war eine Szenerie aus einem Psychothriller gewesen: ein einsames, verlassenes Haus im Nirgendwo, die lockenden Gesänge, die plötzliche Stille … Der einzige Unterschied: meine Furchtlosigkeit. Ich hatte in dieses Haus hineingehen wollen. Ich wusste, dass dort etwas Schreckliches auf mich wartete, aber es wäre mir eine Freude gewesen, ihm zu begegnen.
    »Hier, iss das.« Gianna hatte auf ihren Knien einen Apfel geschält und reichte mir einen Schnitz nach hinten.
    »Nein danke.« Sie hatte vorhin diese grauenhafte Toilettenanlage benutzt, und selbst wenn sie sich anschließend die Hände gewaschen hatte, hieß das nicht, dass …
    »Iss es, Elisabeth!«, donnerte Paul. Oh. Der Stier in ihm war erwacht. Sogar Tillmann hatte sich erschreckt. Ich nahm Gianna das Apfelstück mit spitzen Fingern aus der Hand, wischte es unauffällig an meinem T-Shirt ab und steckte es in den Mund. Als meine Geschmacksknospen trotz des Schnupfens die fruchtige Säure erkannten, kehrte der Speichel zurück und überströmte süß meine Zunge. Erstaunt stellte ich fest, dass ich wieder atmen konnte. Meine Nase war frei. Bereitwillig nahm ich drei weitere Apfelschnitze entgegen.
    Tillmann sah sich nervös nach den Mautbeamten um. Sie beobachteten uns. Vielleicht war ihnen unsere gestresste Streiterei aufgefallen. Vielleicht dachten sie auch, wir könnten unser Ticket nicht bezahlen. Doch wie immer war Geld unser kleinstes Problem. Paul ließ seufzend den Motor an.
    »Ab Modena übernehme ich«, säuselte Gianna aufmunternd, die ihre Tränen inzwischen getrocknet hatte. »Wir sind außerdem bald da.«
    Ja. Bald würden wir da sein. Am Meer. An der Adria. Adriaküste mutete nach Massentourismus an, aber auch nach Leichtigkeit und Lebensfreude. An der Adria gab es keine verlassenen Häuser, keine Schlangen im Gras und bestimmt auch keine überfüllten, dreckigen Raststätten.
    Ich verwarf die Demokratie als ein veraltetes System, das der Realität nicht standhielt, und führte kurzerhand die Diktatur ein. Nun sollte meine Musik gehört werden, auch wenn

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