Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
öffneten, meinen Körper herauszogen und hinüber zu den Bäumen trugen. Ich ließ mich mitnehmen wie eine Porzellanpuppe, ungelenk und steif. Selbst meine Eingeweide hatten es aufgegeben zu arbeiten.
    Meine Kehle konnte und wollte nicht mehr schlucken, als Paul eine Flasche an meine Lippen drückte. Das Einzige, was noch seinen Dienst verrichtete, waren meine Ohren. Die hohen, rufenden Gesänge hatten sich in ihnen verankert, begleiteten mich noch immer, obwohl Gianna die Musik längst ausgeschaltet hatte.
    Ich sah von weit oben zu, wie sich mein Körper aufrichtete und das tat, was die Klänge ihm befahlen. Mit staksigen, ungelenken Schritten, eine Marionette an unsichtbaren Fäden, lief er in einer kerzengeraden Linie dem verlassenen, zerfallenen Haus entgegen, dessen dunkle Fensterhöhlen mich wie Augen anschauten. Es wollte, dass ich zu ihm kam.
    »Ellie, nicht bewegen, du warst gerade ohnmächtig, setz dich wieder hin …«
    Gianna und Paul rannten mir nach, um mich aufzuhalten. Ich ging schneller. Meine Knie knackten bei jeder Bewegung, meine Schultern drehten sich ruckartig nach rechts und links, wenn meine Beine nach vorne klappten, Blut hatte ich keines mehr, Muskeln auch nicht, doch sie konnten mich nicht stoppen, zu stark war der Drang zu sehen, was sich in diesem Haus verbarg. Es rief mich. Dort drinnen war etwas, was ich entdecken musste. Ich hatte mein Leben lang danach gesucht.
    Mein Blick saugte sich an den Überresten der Fensterläden fest, die schief in den rostigen Angeln hingen und im trockenen Wind quietschten. Mechanisch klappten meine Wimpern herunter, weil Sand in meine Augen wehte, und öffneten sich sofort wieder mit einem kaum hörbaren Klicken. Das Gras wurde dichter und höher, je näher ich dem Gebäude kam. Der hintere Bereich des Hauses war bereits eine zerfressene Ruine. Dornige Büsche wucherten über die Steine, als würden sie die Mauern verschlingen wollen.
    Die morsche Eingangstür stand weit offen und gab den Blick auf die Schwärze im Inneren frei, ein gähnender Schlund, aus dem kalte, verbrauchte Luft flimmernd in die Hitze des Nachmittags brandete. Nein, es war nicht mehr das Lied, das meine Ohren erfüllte. Es war die Luft, die sang, bedrohlich und schön. So schön …
    Nur noch wenige Schritte. Die Fäden zogen an meinen Ellenbogen und hoben meine Arme an, richteten sie nach vorne, wie ein Schlafwandler schritt ich der Tür entgegen. Dann wurde es still. Das Zirpen der Grillen brach von einer Sekunde auf die andere ab, der warme Wind legte sich, auch das warnende Rufen der anderen verstummte. Sie hielten den Atem an. Sie hatten Angst.
    Ich hingegen war ruhig und gefasst, fast erwartungsfroh, als das verdorrte Gras sich teilte und die Schlange mit erhobenem Kopf und weit geöffnetem Kiefer auf mich zuschnellte. Ich wollte mich niederknien, um ihr mein Handgelenk entgegenzuhalten, damit sie ihren schlanken, gemusterten Leib um meinen Arm winden konnte. Ihre weißen Zähne klappten auf, als das Gift sich aus ihrem Reservoir befreite.
    »Ellie! Verdammt noch mal, Ellie, lauf! Lauf!«, brüllten die anderen. Jemand zerrte an meinem Arm.
    »Lasst mich«, wehrte ich mit blecherner Stimme ab, verwundert und entzückt darüber, dass die Angst nicht kam, obwohl der Schauder sich in einer eisigen Klammer um mein Genick gelegt hatte. Die Kiefer der Schlange schlugen in der Luft aufeinander, als ich meinen Arm in letzter Sekunde zurückzog.
    »Noch nicht«, sagte ich tröstend. Bedauernd wandte ich meine Blicke ab, und sowie ich mich von der Schlange und dem Haus losgerissen hatte, eroberte mein Körper mich wieder zurück, gehorchte seinen eigenen kranken Gesetzen und flößte mir die Angst ein wie altvertraute Medizin.
    Jetzt rannte auch ich. Die trockenen Grashalme schnitten in meine nackten Füße, als ich einem Hundertmetersprinter gleich auf das Auto zuflog. Im Laufen hob Paul das Handtuch auf, auf das sie mich gebettet hatten; meine Schuhe nahm ich. Gianna schluchzte laut.
    »Mach auf!«, schrien wir gleichzeitig und rüttelten kopflos an den verriegelten Türen. Paul drückte den Knopf der Fernbedienung. Endlich öffneten sich die Schlösser. Tillmann lag längs auf der Rückbank und schlief fest. Er schlief? Am helllichten Tage?
    Der Wagen sprang erst beim zweiten Versuch an. Steine und trockener Lehm spritzten auf, als Paul ihn den schmalen Feldweg entlang der Autobahn entgegenprügelte, doch kurz vor der Mautstelle – das verlassene Haus lag schon weit hinter uns –

Weitere Kostenlose Bücher