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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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unerklärliche Scheu davon ab, ihm ins Gesicht zu blicken. Hatte ich Angst, dort etwas zu entdecken, was das Kribbeln ersterben ließ – oder es außer Kontrolle brachte, sodass ich mich und damit auch Tessa vergaß? Nein, das passte nicht zu mir. Oder doch?
    Meiner lähmenden Schüchternheit zum Trotz hob ich langsam meinen Blick. Colin musste unterwegs Rast gemacht haben, um zu jagen, denn er machte keinen hungrigen Eindruck. Seine helle Haut schien zu leuchten und seine pechschwarzen Augen funkelten, doch obwohl jemand wie Colin keinen Schlaf brauchte, wirkte er müde.
    »Vielleicht zerfalle ich ja zu Staub, wenn ich dich ansehe«, raunte er anzüglich. Ich musste lächeln und er erwiderte es, ein schmerzliches, aber auch sehr liebevolles Lächeln. Noch immer konnte ich nicht sprechen. Colin betrachtete mich in aller Seelenruhe. Dann nahm er eine der Strähnen, die sich über meine Brust wanden, zwischen seine Finger und zog sanft daran.
    »Hattest du schon immer so lange Haare?«
    »Nein«, erwiderte ich heiser vor Anspannung. »Das Meer«, zitierte ich ihn ironisch und sein Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen. Plötzlich konnte ich mit der Situation nicht mehr umgehen und verlor die Regie über das, was ich sagte und dachte.
    »Oh Gott, Colin, ich weiß gar nichts über dich, nichts, ich meine, ich weiß nicht, wie groß du bist und wie viel du wiegst, ich weiß nicht mal dein Sternzeichen, gar nichts! Ich kenne deinen Geburtstag nicht …« Ich schlug mir die Hand vor den Mund, um diesem unseligen Geplapper einen Riegel vorzuschieben, doch meine kindlichen Fragen waren ohne Vorwarnung in meinen Kopf geschossen und kamen mir drängender vor als alles andere.
    »Oh, das sind wirklich überaus wichtige Punkte«, erwiderte Colin in seinem üblichen Spott und gab meine Haare wieder frei. Er stellte sich in Pose, wofür er sogar Louis losließ, und präsentierte sich mir wie ein Model am Ende des Laufstegs. Er machte sich über mich lustig – das alte und schon lieb gewonnene Spiel.
    »1,92 Meter, Kampfgewicht 86 Kilogramm, Schütze, Augen- und Haarfarbe changierend, Lieblingsessen: der Kirschkuchen deiner Mutter, Lieblingsfarbe Schwarz – nein, warte, warte. Natürlich ist es die Farbe deiner Augen, für die es noch keine Bezeichnung gibt, aber …«
    »Du hast sie vergessen«, unterbrach ich ihn vorwurfsvoll.
    »Es gibt keine Bezeichnung dafür, Ellie. Glaube mir.«
    Ich musste die Kurve kriegen. Und zwar schnell. Mit glühenden Wangen deutete ich auf den Schuppen, den Paul aufgeteilt hatte – die eine Hälfte war für Louis reserviert, die andere, auf einer kleinen Erhöhung, bot ein provisorisches Lager für Colin.
    »Ist das in Ordnung für dich? Ich meine, wir … wir …« Wir hatten noch zwei Betten im Haus, eines davon sogar im Salon gegenüber meinem Zimmer, aber Colin mochte keine geschlossenen Räume und ich hatte aus Pauls Worten herausgehört, dass er gerne in mahrfreier Umgebung schlafen wollte, ihm und Gianna zuliebe. Colin hatte in seiner Zeit als Stallbursche immer auf Heu und Stroh gelegen; er kannte das. Trotzdem kam ich mir schäbig dabei vor, ihn nicht ins Haus zu lassen. Zumindest nicht jetzt, bei Nacht.
    »Ihr traut mir nicht«, vollendete Colin meine Gedanken gleichgültig. »Ich schlafe sowieso nicht und werde nicht viel hier sein. Es ist mir nicht wichtig, wo ich liege. Übrigens, Ellie …« Er hob den Arm, um zur Straße zu zeigen. Der köstliche Duft, der dabei aufstieg, bekräftigte das Kribbeln darin, dass es den richtigen Platz für seine Eskapaden gefunden hatte. Ich fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren, und hielt mich kurz an Colins Gürtel fest, um nicht zu kippen. »Ein Haus am Meer? Ihr steigt in einem Haus am Meer ab?«
    »Ja, ich, äh, wir …« Stammelnd brach ich ab. Deutete ich seinen Gesichtsaudruck richtig? Es erheiterte ihn? »Was ist?«, blaffte ich ihn an. »Ich weiß, es ist nicht das Richtige, aber ich hatte Gianna falsch verstanden und Gianna hatte mich falsch verstanden und wir … ach, Scheiße.«
    »Keine Sorge, Ellie. Es ist eigentlich gar nicht so verkehrt. Falls sie kommt, wird sie dadurch mehr Zeit brauchen und das wiederum verschafft euch Zeit. Aber abhalten wird es sie nicht.« Er nahm diesen logistischen Missgriff so locker? Dann hatte ich mich ja umsonst aufgeregt. »Es ist seltsam, oder?«, fuhr er beiläufig fort. »Die Menschen hier haben Angst vor ihrem größten Gut, dem Meer. Alle älteren Städtchen kleben an den Bergen. Fast

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