Dornenliebe
anzurichten, den anderen aber nicht haben, ohne genau dies zu tun. Sie wird sich entscheiden müssen, irgendwann, bald, nicht sofort, sie muss Zeit gewinnen, alles überlegt angehen, jetzt mehr denn je. Zeit gewinnen.
Die Straßen in der Innenstadt sind dicht befahren, wie immer in der Vorweihnachtszeit, doch sie brauchen nur wenige Minuten bis zur Straße, in der Falk wohnt. Jaron
küsst sie erneut an jeder roten Ampel, schüttelt den Kopf, als sie ihn bittet, bereits an der Ecke zu halten, aus Angst, Falk könnte etwas mitbekommen.
»Du kannst nicht alles allein tragen«, meint er. »Wenn Falk in dem Moment kommt, wo du die Bananenpflanze schleppst, aber die anderen Sachen noch an der Ecke stehen, denkt er erst recht nichts Gutes. Sollte er wirklich vorfahren, solange ich noch da bin, kann ich immer noch schnell mit dem Auto abhauen.«
»Ich will nicht, dass er dich erwischt«, sagt Luna, sie ist als Erste ausgestiegen, in Jarons Auto war es gerade erst warm geworden, nun umfängt sie die Kälte des Abends und lässt ihre Zähne aufeinanderschlagen, vielleicht auch vor Angst.
»Geh du schon mit den ersten Sachen vor, ich pass auf, dass er nicht kommt, dann bring ich den Rest schnell ins Treppenhaus », verspricht Jaron, steigt ebenfalls aus und öffnet den Kofferraum. »Hochbringen musst du die Sachen dann allein. Wenn Falk uns im Haus zusammen sieht, reißt er uns den Kopf ab.«
Luna nickt, schließt auf, bei Falks Haustür klemmt nichts, alles geht wie von selbst, glatt, hochwertig, modern, Luna stellt den Topf mit der Bananenpflanze davor, um sie offen zu halten, baut die Einkäufe neben dem Fahrstuhl auf, Jaron, der ihr nun doch ins Haus gefolgt ist, hilft ihr beim Beladen, zum Glück passt alles hinein.
»Also dann«, sagt sie leise. »Danke für alles, Jaron.«
»Warte«, flüstert Jaron und greift nach ihrem Arm, führt sie in eine Nische unter der Treppe, küsst sie noch einmal so zärtlich, dass ihr beinahe schwindlig wird, er darf das nicht, nicht hier, auf keinen Fall, aber er soll auch nicht aufhören, eine Sekunde noch, und noch eine. Dieser Moment soll nicht vorbei sein, Lunas Herz hämmert, es ist so schön, so schön, Jaron fühlt sich so gut an,
so vertraut, jemand aus ihrer eigenen Welt, sie muss auf nichts achten, braucht einfach nur zu lieben.
Lieben. Jaron lieben?
Da hört sie, wie die Tür geht, jemand kommt von draußen ins Treppenhaus. Ein Schrecken durchfährt Luna, sie sind schon viel zu weit gegangen, wenn das Falk ist, bringt er uns um! Vorsichtig lugt sie um die Ecke, doch es ist nur ein unbekannter Nachbar, der kopfschüttelnd die geöffnete Fahrstühltur betrachtet und dann missmutig die Treppe hinaufstapft. Hastig drückt Luna Jarons Körper noch einmal an sich und verabschiedet sich flüsternd, er versteht sofort, hält sie nicht mehr fest, aber sein Blick, als sie in den Fahrstuhl steigt, strahlt Zuversicht aus, wir schaffen das, Luna; nimm dir die Zeit, die du brauchst, wofür auch immer. Luna möchte noch so viel sagen, doch dann hebt sie nur einmal kurz die Hand zum Gruß, drückt den Knopf zum obersten Stockwerk. Lautlos schließt sich die Fahrstuhltür hinter ihr, leise und schnell surrt die Kabine nach oben, Luna legt ihr Ohr gegen die Tür, dahinter scheint alles still zu sein. Es kommt ihr vor, als wäre sie tagelang fort gewesen, dabei waren es nur gute drei Stunden, Falk kann noch gar nicht zurück sein, wenn er irgendwo am anderen Ende der Stadt weilt. Oben angekommen schließt Luna die Wohnungstür auf und bringt die Sachen in den Flur, tatsächlich ist alles dunkel, nicht einmal Falks Anrufbeantworter blinkt. Vielleicht kommt er erst in ein oder zwei Stunden, sie vermeidet es, auf ihr Handy zu sehen, trägt erst alles hinüber in das neue Arbeitszimmer. Geht ins Bad, auf die Toilette, wäscht sich anschließend Gesicht und Hände, obwohl sie Jarons Kuss nicht abwaschen möchte, den Duft seiner Haut und seiner Haare, den sie immer noch zu spüren meint, sie muss sich zusammenreißen, wenn Falk kommt, darf er ihr nichts anmerken.
Im Arbeitszimmer sperrt Luna die Fenster auf, öffnet die Flügel und lässt die kalte, klare Luft hereinströmen, endlich friert sie nicht mehr. Dann fängt sie an zu arbeiten, schnell, konzentriert, sortiert, ordnet weiter Papiere und Gegenstände, die Tätigkeit hilft ihr, Abstand zu gewinnen, Abstand zu dem, was sie gerade erlebt hat, hilft ihr, noch ein wenig in Ruhe an Jaron zu denken und doch wieder zurück in die Wirklichkeit
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