Dornenschwestern (German Edition)
Vater steht eine schmächtige Gestalt: Prinz Edward. Vor ihm ragt ein Bischof auf, das Messbuch auf der Seite mit der Trauzeremonie aufgeschlagen.
«Komm», sagt die böse Königin. «Dies ist dein erster Schritt, ich werde dich leiten.» Sie nimmt mich an der Hand und führt mich zu ihm.
Ich bin vierzehn Jahre alt und die Tochter eines angeklagten Verräters im Exil, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt ist. Ich werde mit einem Jungen verlobt, der fast drei Jahre älter ist als ich, dem Sohn der angsteinflößendsten Frau, die England je gekannt hat. Durch diese Verbindung wird mein Vater sie zurück nach England bringen, die Wölfin, wie man sie nennt. Und ich muss dieses Ungeheuer fortan Mutter nennen.
Ich sehe mich nach Isabel um, die sehr weit weg ist. Sie bemüht sich, mir ein ermutigendes Lächeln zu schenken, doch ihr Gesicht ist abgehärmt und blass in der düsteren Kathedrale. Ich erinnere mich, wie sie in der Hochzeitsnacht gesagt hat: «Geh nicht.» Ich wiederhole die Worte stumm in ihre Richtung. Dann wende ich mich um und gehe zu meinem Vater, um seinem Befehl Folge zu leisten.
Amboise, Frankreich
Winter 1470
I ch kann nicht glauben, was für ein Leben sich vor mir entfaltet. Im kalten Licht der Wintermorgen wache ich neben Isabel auf und muss still liegen bleiben und mich umsehen, die Steinmauern des Raums und die Wandteppiche betrachten – gedämpfte Farben im frühen Licht –, um mich daran zu erinnern, wo ich bin und wie weit wir es gebracht haben und welch unfassbare Zukunft vor mir liegt. Ich sage mir wieder: Ich bin Anne of Warwick, ich bin immer noch ich. Ich bin mit Prinz Edward of Lancaster verlobt, ich bin Prinzessin von Wales, solange der alte König lebt, und bei seinem Tod werde ich Königin Anne von England sein.
«Du murmelst schon wieder vor dich hin», sagt Isabel aufgebracht. «Murmelst wie eine verrückte Alte. Halt den Mund, du machst dich lächerlich.»
Ich kneife die Lippen zusammen, um mich zum Schweigen zu bringen. Dies ist mein Ritual, das ich so regelmäßig befolge wie die Prim. Ich kann den Tag nicht beginnen, ohne die Veränderungen in meinem Leben noch einmal durchzugehen. Es ist, als könnte ich nicht glauben, dass ich hier bin, wenn ich nicht meine Erwartungen aufsage, meine unglaublichen Hoffnungen. Zuerst schlage ich die Augen auf und sehe wieder, dass ich mich in einem der besten Gemächer des wunderschönen Château d’Amboise befinde. In diesem Märchenschloss sind wir Gäste des Mannes, der einst unser größter Feind war und der jetzt unser bester Freund ist. König Ludwig von Frankreich. Ich bin verlobt mit dem Sohn der bösen Königin und des schlafenden Königs, nur muss ich jetzt immer daran denken, sie «gnädige Mutter» zu nennen und ihn meinen «königlichen Vater». Isabel wird nicht Königin von England und George nicht König. Sie wird meine erste Hofdame und ich Königin. Unglaublich, aber Vater hat England schon im Sturm eingenommen! Er ist nach London marschiert, hat den schlafenden König, König Henry, aus dem Tower befreit, ihn dem Volk präsentiert und zum König von England ausrufen lassen, der zu seinen Untertanen und seinem Thron zurückgekehrt ist. Die Menschen bejubeln ihn. Wir können es kaum fassen, aber in Frankreich lernen wir, den Triumph des Hauses Lancaster zu feiern, sagen «unser Haus», wenn wir die rote Rose meinen, stellen sämtliche lebenslange Bindungen auf den Kopf.
Königin Elizabeth, voller Angst vor der offenen Feindschaft meines Vaters, ist mit ihrer Mutter und ihren Töchtern ins Kirchenasyl geflohen und versteckt sich. Sie erwartet das nächste Kind, verlassen von ihrem Gemahl. Jetzt spielt es keine Rolle, ob sie einen Sohn bekommt oder eine Tochter oder eine Fehlgeburt erleidet, wie George es ihr gewünscht hat, denn ihr Sohn wird niemals auf dem Thron von England sitzen, das Haus York ist vollkommen am Boden. Sie kauert in ihrer Zuflucht, und ihr Gemahl, der gutaussehende und einst mächtige König Edward, unser Freund, unser einstiger Held, ist aus England geflohen wie ein Feigling, begleitet nur von seinem treuen Bruder Richard und einem halben Dutzend weiterer Männer. Sie drehen irgendwo in Flandern Däumchen und fürchten um ihre Zukunft. Vater wird nächstes Jahr dort gegen sie Krieg führen. Er wird sie jagen und töten. Denn sie sind Gesetzlose.
Die Königin, deren Schönheit alles überstrahlt hat, als sie ihren Triumph feierte, die so unbeugsam in ihrer Abneigung war, ist wieder da, wo sie
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