Dornroeschenmord
anderes, als das Glück der letzten beiden Nächte in Gedanken immer wieder neu erleben. Fast hatte sie das Gefühl, als sei diese gedankliche Wiederholung noch vollkommener, noch erregender als die Wirklichkeit.
Irgendwann mußte sie eingeschlafen sein, denn als sie wieder zu sich kam, war es draußen schon dunkel. Sie sah auf die Uhr und stellte fest, daß sie mehr als vier Stunden geschlafen hatte. Niemand hatte sie gestört, nicht einmal Frederick hatte angerufen. Seltsam. Sie hatte seit zwei Tagen nichts von ihm gehört. Offensichtlich hatte er – genau wie sie – nicht einmal den Hauch eines schlechten Gewissens.
Prompt wurden ihre Gedankengänge vom Klingeln des Telefons unterbrochen. Es war Dorothee. Mandy freute sich: endlich jemand, mit dem sie sich ungestört und ausführlich über alles unterhalten konnte. Doch Dorothee schlug vor, das Gespräch auf den nächsten Tag zu verschieben. Sie habe noch eine Verabredung, sagte sie. Für Mandy klang es allerdings wie eine Ausrede. Merkwürdig.
Von jeher hatte sie Krankenhäuser mit ihrem Geruch nach Krankheit und Desinfektionsmitteln und dem Anblick bleicher Gestalten in Bademänteln verabscheut. Jedesmal, wenn Mandy ihre Freundin im Klinikum Rechts der Isar abholte, wo diese über einige Belegbetten verfügte, wurde es ihr wieder bewußt. Schon der Gedanke an Krankenhäuser rief freudlose Kindheitserinnerungen in ihr wach. Als kleines Mädchen war sie schwer krank gewesen – sie hatte an Hepatitis gelitten und war im Alter von acht Jahren an einem Nierenabszeß operiert worden –, so daß sie von Hospitälern für ihr Leben kuriert war.
Energisch stieß sie die schwere Eingangstür auf und fühlte plötzlich einen Stoß zwischen Magen und Herz. Ein großer, blonder Mann kam mit gehetzten Schritten direkt auf sie zu. Frederick. Sie blieb stehen, und in diesem Augenblick erkannte er sie. Mandy hatte den Eindruck, als sei ihm die Begegnung fast peinlich, denn als sie ihn ansprach, blickte er verlegen zur Seite.
»Frederick! Was machst du denn hier? Ist jemand krank?«
»Krank? Wieso?« Er lachte gezwungen. »Ach so, ja, stimmt. Meine Mutter wurde … ähm … operiert …«
»Ist es schlimm?« Mandy sah ihn mit gerunzelten Brauen an.
»Nein, sie ist Gott sei Dank über den Berg.«
»Was fehlt ihr denn?«
»Was ihr fehlt … Sie hat irgendwas mit der Schilddrüse. Du weißt ja, wie Ärzte sind. Sie sagen einem nichts Genaues.«
»Ah ja.« Mandy kam es vor, als würde ihr gerade eine faustdicke Lüge aufgetischt. Wenn es um den Gesundheitszustand seiner Mutter tatsächlich nicht so schlimm bestellt war, warum war er dann auf der Premierenfeier so überstürzt davongeeilt und hatte sich seitdem nicht mehr gemeldet?
Als könnte er ihre Zweifel riechen, sagte er im selben Moment: »Du, ich hatte wirklich vor, dich anzurufen. Aber ich bin bisher nicht dazu gekommen. Sei mir nicht böse, aber ich muß jetzt wirklich los. Ich meld mich. Versprochen.« Und schon war er durch die Tür verschwunden.
Konsterniert blickte Mandy ihm hinterher. Sein Benehmen war wirklich mehr als verdächtig. Noch nie hatte sie ihn so kurz angebunden erlebt. Und dann diese merkwürdige Geschichte mit seiner Mutter. Aber wenn sie nicht stimmte, was wollte er dann im Krankenhaus?
Sie hätte alles gegeben, um den Grund für seine Geheimniskrämerei zu erfahren, gleichzeitig hatte sie Angst vor der Wahrheit, die sie eigentlich schon ahnte. Wenn sich seine Erklärungen als Lügen herausstellten, dann gab es nur einen Grund, der seine Anwesenheit hier erklärte: Dorothee.
Hatte ihre Freundin sich in letzter Zeit nicht eigenartig verhalten? Erst kürzlich hatte Mandy vermutet, Dorothee habe jemanden kennengelernt – sie hatte plötzlich so zufrieden gewirkt. Auf Mandys zähe Nachfragen hin hatte sie allerdings nur betreten abgewinkt. Ganz so, als habe sie ein schlechtes Gewissen.
Mit einem mulmigen Gefühl betrat Mandy das Arztzimmer. Dorothee wandte ihr den Rücken zu und sprach gerade in ihr Diktiergerät. Als sie Mandys Schritte hörte, drehte sie sich um und lächelte ihr herzlich zu. Mandy setzte sich auf das abgewetzte Sofa und beäugte mißtrauisch ihre Freundin, aber nichts deutete darauf hin, daß sie Minuten zuvor eine leidenschaftliche Begegnung mit Frederick gehabt haben sollte. Sie war so gedankenverloren, daß sie gar nicht bemerkte, wie Dorothee ihr Diktiergerät abschaltete und sich den Mantel überzog.
»Wollen wir gehen?« Ihre Stimme ließ Mandy erschrocken
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