Dornröschenschlaf
diesem Typen einfach ihre Kamera zu geben und dann wegzulaufen, einen harten Kampf mit ihm geliefert hat? Wie lange wird es dauern, bis er zwei und zwei zusammenzählt und daraus schlieÃt, dass seine Frau das einzige Versprechen, um das sie jemals von ihm gebeten worden ist, gebrochen hat?
»Stopp«, sagte Brenna laut und ratterte die ersten drei Zeilen des Fahneneids herunter. Sie musste sich an einen einzigen Moment erinnern, nicht an den gesamten Tag. Warum nur funktionierte ihre Erinnerung auf diese unglückliche Art? Warum hatte sie keinerlei Kontrolle über die Dinge, die in ihrem Kopf geschahen?
Sie kniff erneut die Augen zu.
Der Brunnen. Der gottverdammte Brunnen in der gottverdammten Wohnanlage Waterside.
Spätvormittag. 23. Oktober 1998. Sie brauchte diesen Augenblick. Nur diesen einen Augenblick.
Sie hatte sich die Wohnanlage gröÃer vorgestellt. Rechts neben dem Besucherparkplatz ist der Clubbereich, der eine Reihe eingezäunter Tennisplätze, das Vereinshaus, Schwimmbecken und Turnhalle umfasst, und dann folgt ungefähr ein Dutzend gleichmäÃig verteilter Häuser links und rechts der breiten, leeren StraÃe, die in Richtung Westen führt. Alle diese Häuser bieten eine wunderbare Aussicht auf den Hudson River, und sie alle sind so neu, dass man praktisch noch die Farbe riechen kann.
Brenna steigt aus ihrem Wagen. Ihre Muskeln schmerzen, wenn sie steht, und die Schnitte an den Händen brennen in der Kälte.
Trotzdem gefällt ihr der Komplex, denn hier ist es herrlich still. Der perfekte Ort, wenn man zur Ruhe kommen will. Brenna hatte sich gewundert, als ihr Lydias Nachbarin erklärt hatte, Lydia führe jeden Vormittag hierher, um zu »meditieren«. Aber plötzlich kann sie es verstehen.
Ich an ihrer Stelle würde es genauso machen, sagt sie sich.
Sie hört das entfernte Brummen einen Rasenmähers und dann ein statisches Geräusch. FlieÃendes Wasser. Der Brunnen. Sie folgt diesem Geräusch â am Clubbereich vorbei bis zu einem Marmorschild, auf dem in goldenen Lettern GARTEN steht. Ahornbäume sowie Reihen zwergenhafter, frisch gepflanzter Büsche stehen links und rechts des Pfads, den sie hinuntergeht, bis sie einen von zurückgeschnittenen Rosenbüschen, eingetopften Ficus-Bäumen und japanischem Ahorn gesäumten, runden Platz erreicht.
In der Mitte dieses Platzes steht der Brunnen, dessen glatter weiÃer Stein Brenna an Skulpturen und dann, während eines flüchtigen Moments, an ihre bildhauende Mutter denken lässt.
Fünf schmiedeeiserne Bänke sind in gleichmäÃigen Abständen um den Brunnen herum verteilt. Es herrscht eine perfekte Ordnung, ein perfektes Gleichgewicht, abgesehen von â¦
⦠einer schlanken, schwarzhaarigen Frau. Sie sitzt allein auf der am weitesten entfernten Bank, trägt einen langen, schwarzen Mantel, hat die Hände im Schoà gefaltet und den Kopf gesenkt.
Langsam bewegt sich Brenna auf sie zu.
Auf der Oberseite ihres rechten Handgelenks hat die Frau eine Tätowierung: eine Libelle mit einem roten Körper und blau-grünen Flügeln.
Als sie aufsieht, erkennt Brenna ihre hohen Wangenknochen, ihre dunklen Augen, die heruntergezogenen Mundwinkel, die Lachfältchen, die wie schwache Parenthesen aussehen ⦠erkennt Lydia Neffs Gesicht, weil sie es drei Tage nach Irisâ Verschwinden in einem Interview in Good Morning New York gesehen hat. Und während eines Augenblicks hat sie ein seltsames Gefühl, beinahe als wäre diese Frau ein Star, und die Frage, die sie ihr wie allen anderen hat stellen wollen â ob Iris in einen blauen Wagen eingestiegen ist â, und auch die Erklärung, dass sie als Privatdetektivin der Polizei bei einem kleinen Teil ihrer Ermittlungen behilflich ist ⦠diese sorgfältig zurechtgelegten Sätze lösen sich in Wohlgefallen auf, und stattdessen hört sich Brenna sagen: »Ich weiÃ, wie Sie sich fühlen.«
Lydia starrt sie an.
Brenna räuspert sich und sieht ihr in die schwarzen Augen. »Meine Schwester ist in einen Wagen eingestiegen. Ich weià nicht, wer den Wagen gefahren hat oder weshalb sie eingestiegen ist, aber er fuhr davon, und sie war nicht mehr da. Dieser Mensch, neben dem ich jeden Morgen wach geworden bin, der fast alle meine Geheimnisse gekannt hat â dieser Mensch, der so sehr ein Teil von meinem Leben war, dass seine Gegenwart für mich
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