Dornröschenschlaf
Die Jahre der Veränderung. Das Buch war eine Autobiographie, die ihm vielleicht bei seinem Online-Schreibkurs half.
Doch es gab noch einen anderen Grund â tiefergehend, weniger logisch, und es fiel ihm deutlich schwerer, ihn auch nur sich selbst einzugestehen. Nelson wollte etwas in den Händen halten, das von Carol festgehalten worden war. Wollte seine Hände da haben, wo noch vor zehn Tagen die von seiner Frau gelegen hatten, während noch das Blut durch ihre Adern geflossen und der Puls an ihrem Handgelenk zu spüren gewesen war. Wollte seinen Blick auf Dinge lenken, die auch sie gesehen hatte, wollte Worte lesen, mit deren Lektüre sie befasst gewesen war. Wollte sich in sie hineinversetzen und identische Gedanken hegen, wollte unbedingt mit ihr verbunden sein. Mit Carol. Der lebenden Carol. Wollte endlich wissen, was sie für ein Mensch gewesen war.
Doch es funktionierte nicht. Er konnte keinen Satz des Buches lesen, ohne Carols tote Augen, ihr bis auf die Knochen verwesendes Gesicht, die schlaffe Hand mit ihrem Ehering vor sich zu sehen. War dies wohl die Erinnerung an Carol, die ihm bis ans Lebensende blieb? Würde er von jetzt an, wenn er Carols Namen hörte, immer dieses Ding im Kofferraum des Volvos vor sich sehen?
Seine Ehefrau.
Wie konnten sie nur glauben, Nelson hätte Carol umgebracht? Detective Pomroy und diese Reporter ⦠Sie war seine Frau gewesen, seine Ehefrau. Wie konnten sie nur denken, er wäre in seine Garage gegangen, hätte sich den Flachschraubenzieher geholt und ihn seiner eigenen Frau ins Herz gerammt, die niemals ein Verhältnis angefangen hatte, um sich für die Sache zwischen ihm und Lydia zu rächen, die ihn nie hatte verlassen wollen, sondern einfach auf der Suche nach einem verschwundenen Kind gewesen war â¦
Nelson erschauderte. Denk nicht daran, denk nicht darüber nach ⦠denk stattdessen an die Menschen, die noch leben, denk an Iris Neff ⦠Er richtete sich derart hastig auf, dass das Buch zu Boden fiel.
Und dann klingelte das Telefon. Oder vielleicht hatte er das Buch auch fallen lassen, weil das schrille Läuten an sein Ohr gedrungen war. Beides war so schnell geschehen, dass er sich der Reihenfolge nicht sicher war.
Nelson schnappte sich das Telefon von Carols Nachttisch, sah die Worte UNBEKANNTER ANRUFER auf dem Display, drückte auf den grünen Knopf und schnitt dadurch seine eigene Stimme ab: Die Wentz sind im Augenblick nicht da â¦
»Iris?«
Keine Antwort. Auch kein Rauschen â offensichtlich hatte sie den Akku ihres Handys aufgeladen oder rief aus einer Gegend an, in der der Empfang ein wenig besser war.
»Bist du es, Iris?«, fragte er und war den Tränen nah. »Es ist alles gut. Was auch immer geschehen ist, was auch immer du ⦠was immer du meinst, Carol angetan zu haben ⦠ich bin dir nicht böse. Bitte. Ich könnte einem Kind nie böse sein.« Nelson atmete tief durch. Seine Finger taten weh, und ihm wurde bewusst, dass er das Telefon so fest wie ein Ertrinkender ein Rettungsseil umklammert hielt.
»Mr Wentz, hier spricht Graeme Klavel. Sie hatten mich gebeten, Sie zurückzurufen.«
Nelson fiel in sich zusammen wie ein Ballon, aus dem die Luft entwichen war. »O ja. Tut mir leid. Ich ⦠ich dachte, Sie wären jemand anders.«
»Tja, nun ⦠um Ihre Frage zu beantworten. Ich habe im Auftrag Ihrer ⦠äh ⦠Ihrer verstorbenen Frau ⦠ein paar Recherchen durchgeführt.«
»Können Sie mir bitte sagen, worum es bei diesen Recherchen ging?«
Es folgte eine lange Pause.
»Mr Klavel?«
»Haben ⦠Haben Sie dieses Klicken auch gehört?«
Nelson schluckte. »Nein.«
»Hören Sie, ich ⦠ich habe jede Menge Anrufe wegen Ihrer Frau bekommen. Aber zurückgerufen habe ich nur Sie.«
»Danke. Das weià ich zu schätzen.«
»Mr Wentz, ich war auch einmal verheiratet und ⦠Sind Sie sicher, dass Sie es nicht hören?«
»Dass ich was nicht höre, Mr Klavel? Bitte, ich â¦Â«
»Es ist mir nicht angenehm, am Telefon mit Ihnen darüber zu sprechen.«
»Mr Klavel, haben Sie und meine Frau Iris Neff gefunden?« Nelson schrie den anderen Mann fast an, doch es spielte keine Rolle. Denn der Anrufer hatte inzwischen wieder aufgelegt.
Nelson wurde schwindelig. Sein Blick fiel auf die Wand über dem Bett â auf das
Weitere Kostenlose Bücher