Dornteufel: Thriller (German Edition)
Erwartungen an die Zweisamkeit dafür gesorgt hatte, dass er nicht in den Tag hineinleben konnte. Nun war das eingetreten, wonach er sich so lange gesehnt hatte: Er war allein und ohne Verpflichtungen, hatte keine wie auch immer gearteten Pläne, nicht einmal eine Idee. Ein Tag folgte auf den nächsten, ohne dass etwas passierte. Doch spätestens vormittags gegen halb elf wurde das Nichtstun regelmäßig öde. Am Nachmittag erfasste ihn dann eine leichte Panik, die er abends, sobald die Sonne untergegangen war, in der irischen Eckkneipe in der Nähe seiner Wohnung mit Bier bekämpfte.
Er wünschte sich sehnlichst, mehr als nur noch diese maximal sechs Monate zu haben. Aber wofür wollte er eigentlich länger leben, als das Schicksal ihm mit dieser heimtückischen Krankheit zugedacht hatte, wenn er gar nichts damit anzufangen wusste? Er hatte versucht, diese Frage mit Ed, dem Wirt, zu erörtern. Doch der hatte meistens nur ein bestätigendes »Hm« von sich gegeben und genickt und nichts zur Lösung des Problems beigetragen. Ansonsten hatte er darauf hingewiesen, er habe ein offenes Bein und wäre froh, nicht jeden Abend am Tresen stehen zu müssen.
Eines Nachmittags lief Ferland ziellos durch die Straßen. Er sah nach oben und stellte milde erstaunt fest, dass der Himmel heute klar und blau war. Die Sonne schien. Wenn er ein Stück die Straße runtergehen und dann den kleinen Park betreten würde, ergatterte er vielleicht noch ein paar Sonnenstrahlen im Gesicht. Er sollte bewusster leben, dachte er. Er könnte sich ein Steak zum Mittagessen gönnen. Wozu sparen? Wozu noch Gewicht halten?
In dem Schaufenster eines Reisebüros lachte ihm ein verliebtes Paar vor dem Eiffelturm entgegen. Die Frau erinnerte ihn an Paula, als sie jung gewesen war und die Unzufriedenheit noch nicht die tiefen Linien neben ihrem Mund gegraben hatte. Das Foto war ein Klischee vor einem Klischee, aber Paris … Da wohnte doch Rebecca Stern, die Schwester der toten Moira, die ihn so sehr beschäftigt hatte, dass er deswegen beurlaubt worden war – zum Nichtstun verdammt. Da war noch eine Rechnung offen, die er wohl nie mehr würde begleichen können, wenn er sich nicht beeilte. Er zeigte seinem Spiegelbild in der Scheibe einen Vogel, grinste, was sich ungewohnt anfühlte, und stieß die Tür zu dem Reisebüro auf.
Ein Flug nach Paris in der Economy Class war günstiger, als Ferland gedacht hatte. Als er seine Kreditkarte zückte, spürte er den widrigen Umständen zum Trotz eine gewisse Vorfreude. Er fragte sich, warum er nie mit seiner Frau nach Paris geflogen war. Sie hatte es sich immer gewünscht. Die Angestellte im Reisebüro buchte gleich noch ein Zimmer in einem Touristenhotel am Fuße des Montmartre, sodass er sich auch darum nicht mehr zu kümmern brauchte. Er sprach zwar kein Französisch, aber er würde sich schon durchschlagen. Und Rebecca Stern sollte schön blöd gucken, wenn er plötzlich bei ihr auftauchte. Allein für den Moment, wenn er ihr überraschtes Gesicht sehen durfte, lohnte sich der ganze Aufwand.
Er fühlte sich leichter, fast beschwingt, als er zehn Minuten später ein Steakhouse betrat und sich einen Tisch am Fenster zuweisen ließ. Das Leben konnte so schön sein. Warum war er nicht schon viel früher darauf gekommen? Was ihm gefehlt hatte, war ein Ziel, eine lohnende Aufgabe. Er wollte wissen, was Moira Stern passiert war. Er wollte, so pathetisch das auch klang, Gerechtigkeit für sie. Und Rebecca Stern war seines Wissens die einzige Person, die jetzt noch dabei helfen konnte, die Umstände des Todes ihrer Schwester aufzuklären.
Zuerst dachte Ferland, es wäre am besten, wenn er einfach vor Rebecca Sterns Wohnungstür auftauchen würde, um das Überraschungsmoment zu nutzen. Ihre Adresse in Paris befand sich in den von ihm ausgedruckten Unterlagen, die er aus seinem Büro hatte schmuggeln können, bevor er unter den Blicken von Kollegen seinen Schreibtisch geräumt hatte. In all den Jahren war es ihm oft so vorgekommen, als sei er der korrekteste und langweiligste New Yorker Polizist aller Zeiten. Er hatte nie Bestechungsgelder oder Präsente angenommen wie der eine oder andere seiner Kollegen – nicht das kleinste Geschenk! – und niemals auch nur einen Bleistift oder einen Block Papier aus dem Büro mitgehen lassen. Und nun befanden sich vertrauliche Unterlagen in seinem Privatbesitz, und er gedachte, sie zu nutzen. Natürlich hatte er dafür eine Entschuldigung, die sein Gewissen besänftigte: Beim
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