Dornteufel: Thriller (German Edition)
jedem Schatten gleich eine Bedrohung. Sie rieb sich die Oberarme; das hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Da vorne war schon die Ditmar-Koel-Straße. Dort an der Ecke arbeitete Sonja in einem Büro schräg gegenüber der schwedischen Gustav-Adolf-Kirche, hatte sie ihr gesagt. Das Backsteingebäude mit dem kleinen Turm war leicht zu erkennen: Über dem Eingang wehte die schwedische Flagge. Julia überquerte die Straße und betrat das Gebäude, in dem die Hilfsorganisation, Sonjas neuer Arbeitgeber, ihr Büro hatte. Es war verabredet, dass sie ihre Freundin nach der Arbeit abholte und beide dann im Portugiesenviertel etwas essen gingen. Sie beschloss, Sonja nichts von der Panikattacke – oder was immer das eben gewesen war – zu erzählen, auch wenn sie sich immer noch flau fühlte. Sie wollte ihr nicht unnötig Sorgen bereiten. Außerdem half es nichts, darüber nachzudenken; sie wollte sich lieber ablenken. Neugierig drückte Julia die Tür im dritten Stock auf und betrat das Büro von Hanseatic Real Help .
Aktenschränke, Poster an den Wänden, zerschrammtes Mobiliar – so weit keine Überraschung. Sonja saß an einem Schreibtisch vor einem Fenster mit vor Schmutz matten Scheiben, sodass die gegenüberliegende Häuserzeile aussah, als läge sie im Dunst.
»Es dauert noch einen kleinen Moment, Julia. Nimm dir was zu trinken, und mach’s dir gemütlich.«
Die Umgebung passte nicht zu Sonja. In der rückwärtigen Ecke des lang gestreckten Raumes stand ein durchgesessenes Ledersofa mit einem Couchtisch davor, auf dem stapelweise Broschüren und zerfledderte Zeitschriften lagen. Auf dem staubigen Sideboard daneben gab es eine Kaffeemaschine und einen Wasserspender. Julia setzte sich aufs Sofa, sank tief darin ein und griff sich eine der Infobroschüren.
»Das versteh ich jetzt nicht«, sagte Sonja nach ein paar Minuten.
Julia legte ihre Lektüre beiseite, drückte sich aus den Polstern hoch und schlenderte zum Schreibtisch hinüber. Sonja zeigte ihr auf dem Bildschirm eine Mail, die sie erhalten hatte. Sie war auf Englisch verfasst und lautete übersetzt:
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir sind sehr glücklich, endlich Nachricht von unserem Neffen Kamal Said erhalten zu haben. Er musste seine Heimat Afghanistan unter Lebensgefahr verlassen, nachdem man seinen Bruder ermordet hatte und sein Vater aus politischen Gründen in Gefangenschaft geraten war. In den letzten Wochen seiner Flucht hatten weder seine Eltern noch wir Nachricht von ihm erhalten, doch jetzt kam eine Mail von Bord eines Schiffes der Hanseatic Real Help , wo er sich mit drei Schicksalsgenossen aufhält. Zuvor ist er auf einem Schiff namens Aurora gewesen. Wir würden sehr gern wissen, wann und wo Ihr Schiff eintreffen wird, damit wir ihn in Empfang nehmen können.
Mit freundlichen
Grüßen Farid Said
»Was verstehst du denn daran nicht?«, fragte Julia.
Sonja wechselte zu einem neuen Fenster und scrollte durch ein Namensverzeichnis. »Hier: Wir haben keinen Kamal Said in unserer Liste. An Bord unseres Schiffes sind augenblicklich nur zwei Flüchtlinge, und die kommen auch nicht von der Aurora .«
»Vielleicht ist dieser Kamal noch nicht erfasst. Oder er hat einen anderen Namen angegeben.«
»Das kann natürlich sein.« Sonja sah erleichtert aus. »Ein falscher Name. Aber es wird ein bisschen dauern, bis sie hier eintreffen, weil unser Schiff noch eine ganze Weile unterwegs ist, um weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Schade eigentlich. Wäre das Schiff hier, könnten wir einen der geretteten Flüchtlinge auf der Gala-Veranstaltung zu Wort kommen lassen. Das ist viel persönlicher und motiviert die Leute zum Spenden.«
»Wie bist du eigentlich dazu gekommen, ausgerechnet hier zu arbeiten?«, fragte Julia. »Ich meine, es entspricht nicht gerade deiner Ausbildung.« Nicht nur die Arbeit, sondern auch die ganze Umgebung entsprachen Sonja nicht, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Ich wollte endlich mal was Sinnvolles tun. Und Stefan hat mich auf diese Organisation gebracht. Sie haben gerade jemanden fürs Büro gesucht. Serail Almond unterstützt uns übrigens sehr großzügig, und das ist auch Stefans Verdienst.«
»Seit wann interessiert er sich für andere Menschen?«
»Du kannst ihn immer noch nicht leider, oder? Aber er hat auch seine guten Seiten. Er sagt, wenn die blinden Passagiere, die man auf den Schiffen entdeckt, allein den Reedereien oder deren Versicherungsleuten überlassen werden, kommen viele nicht einmal dazu, überhaupt
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