Dornteufel: Thriller (German Edition)
Bett zu klingeln begann, schreckte Rebecca hoch. Es war kurz nach halb zwei in der Nacht. Sie sah auf das Display: Es war der Wachdienst, der immer noch die Aufgabe von Madame Bertrand wahrnahm.
»Hier ist Monsieur Almond für Sie. Soll ich ihn zu Ihnen hochschicken, Madame?«
»Keinesfalls. Ich … möchte Monsieur Almond nicht sehen. Nicht zu dieser nachtschlafenden Zeit, und auch sonst nicht.«
»Er sagt, es sei sehr dringend«, entgegnete der Wachmann.
Er hat dem Mann Geld gegeben, und er wird nicht lockerlassen, dachte Rebecca und versuchte, gänzlich wach zu werden.
»Geben Sie sie mir«, hörte sie Noël sagen. »Rebecca, lass mich reinkommen. Ich bin extra hierhergeflogen, um dich zu sehen.«
»Tut mir leid, Noël. Ich verreise gleich morgen früh, und jetzt brauche ich meinen Schlaf.«
»Unsinn, du verreist nie allein!«
»Dieses Mal schon. Auf Wiedersehen.«
»Rebecca! Hör mir zu! Rebecca …«
Sie unterbrach die Verbindung. Er konnte ihr nicht mehr helfen, und das Schlimmste, das Allerschlimmste wäre für sie, erst das Entsetzen und dann das Mitleid und den Ekel in seinen Augen zu erblicken, wenn er sie in diesem Zustand sehen würde.
Doch mit dem Schlaf war es jetzt vorbei. Rebecca stand auf und machte sich ein Glas Milch mit Honig in der Mikrowelle warm. Sie hoffte, dass sie deutlich genug geworden war und Noël sein Vorhaben aufgab, sie zu sehen. Er würde jetzt ins Hotel Scribe zurückfahren, das zu Fuß nur fünf Minuten von ihrer Wohnung entfernt lag. Dort wohnte er immer während seiner Aufenthalte in Paris, und selbst wenn er die ganze Nacht bei ihr gewesen war, hatte er offiziell im Scribe logiert.
Hatte … war das nun wirklich ihre Vergangenheit? War ihr Leben vorbei? Sie wusste eines: Wenn sie in der Bretagne nicht genesen würde, käme sie nie mehr wieder nach Paris zurück. Der Weg, den Moira beschritten hatte … War sie mutig oder verzweifelt genug, ihn ebenfalls zu gehen? Oder erforderte es mehr Mut, weiterzuleben mit einem Gesicht und einem Körper, die sie nicht mehr wiedererkannte? Und wo sollte das überhaupt enden – so schnell, wie diese Krankheit voranschritt?
Heimgesucht von solchen Gedanken, saß sie noch da, als der Morgen graute. Sie blickte auf den hellen Streifen über den Dächern ihres Arrondissements, der ihr, so lächerlich das auch war, wieder etwas Hoffnung machte. Haut und Psyche. Sie musste fort von hier: weg von einem aufreibenden Job, weg von einer Umgebung, die sie an ihre tote Schwester erinnerte, und weg von einem Liebhaber, der niemals ihr gehören konnte. Sie duschte sich, zog sich an und band ihr Kopftuch so, dass es einen guten Teil ihres Gesichts verbarg. Dann setzte sie die Sonnenbrille auf – lächerlich bei diesem Wetter –, ergriff Koffer und Handtasche. Als Rebecca ihre Wohnungstür hinter sich zusperrte, hatte sie den Eindruck, ein langes Kapitel ihres Lebens für immer abzuschließen.
Doch sie kam nicht weit. Sie überraschte einen eingenickten Wachmann unten im Treppenhaus, der sich eilig hochraffte und sich verstohlen über den Mund wischte, als sie an ihm vorüberging. Sie fragte sich, was er verdienen mochte mit diesem todlangweiligen, aber anstrengenden Job. Ob er wohl davon leben konnte? Sein Gesicht war noch fast jugendlich, mit glatter Haut und ein paar späten Aknenarben auf der Stirn; und sie dachte, dass sie sofort mit ihm tauschen würde, wenn sie die Chance dazu hätte.
Sie erklärte ihm, dass sie verreisen würde und die Wohnung mindestens zwei Wochen leer stünde. Rebecca gab ihm eine Nummer, unter der sie zu erreichen wäre, und wünschte ihm einen schönen Tag. Sie spürte, dass er ihr verwundert nachsah.
Das Taxi, das sie bestellt hatte, wartete schon unter einem der gerade ergrünenden Straßenbäume auf sie. Das Frühjahr war die schönste Jahreszeit in Paris, dachte Rebecca. Und sie fuhr davon. Der Fahrer stieg aus, um ihr mit dem Gepäck zu helfen. Er sah ihr nicht ins Gesicht, was ihr sehr recht war. Trotz der frühen Stunde war die Rue Tronchet schon belebt: von den Berufstätigen, die auf dem Weg zur Arbeit waren, und den älteren Herrschaften, die ihren Hund Gassi führten. Im Café gegenüber saßen die ersten Touristen und frühstückten. Die Besitzerin des Hemdladens nebenan polierte ihre Schaufensterscheibe.
Er musste in dem Hauseingang rechts von ihr auf sie gelauert haben … Als sie, mit eingeschränkter Sicht durch das unsägliche Kopftuch, das sie trug, einen Schatten direkt auf sich zukommen
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