Dornteufel: Thriller (German Edition)
Schiff in Richtung Großbritannien unterwegs. Thamesport, ihr Zielhafen, lag in der Nähe von London; jedenfalls hatte der Schlepper ihm das versichert. Seine Familie verließ sich auf ihn. Viereinhalb Monate waren vergangen, seit er seine Heimat Afghanistan verlassen hatte, in der Hoffnung, nach Griechenland und von dort auf ein Schiff zu gelangen, das ihn nach England bringen würde. Eine Cousine seines Vaters wohnte in London. Sie hatte versprochen, ihm zu helfen – nach allem, was der Familie Said zugestoßen war.
Das Dorf, in dem die Familie von Kamal gelebt hatte, war in lang andauernde Kampfhandlungen verwickelt gewesen, und eine Mine hatte seine achtjährige Schwester Hadia verletzt, sodass sie gezwungen gewesen waren, nach Kabul zu gehen. Sie waren in einer der Zeltstädte vor den Toren Kabuls untergekommen, wo alle – auch die drei anderen Geschwister – in einem einzigen Raum leben mussten. Ihr Vater, der als Lehrer gearbeitet hatte, fand hier keine Anstellung mehr, um Geld zu verdienen. So war es schwer, Hadias Medikamente zu bezahlen, die ständig Schmerzen hatte und wohl nie wieder würde laufen können, und sie alle hatten Hunger. Kamals älterer Bruder Davut hatte deshalb angefangen, als Übersetzer für die US-Armee zu arbeiten, doch als bekannt geworden war, womit er sein Geld verdiente, hatten die Drohungen begonnen. Nun war Davut tot, ermordet in einem Hinterhalt der Taliban, und seinen Vater hatte man unter einem Vorwand verhaftet. Kamal war nun die einzige Hoffnung seiner Familie.
Aber was sollte er tun, wenn es Navid schlechter und schlechter ging? Er konnte natürlich abwarten und Navid einfach sterben lassen. Doch der Gedanke, in diesem Blechsarg ohne Licht mit einem Toten zu sein, flößte Kamal Entsetzen ein. Außerdem – und das gab den Ausschlag – wollte er sich nicht schuldig machen am Tod seines Mitflüchtlings. Er hatte so viel Unmenschliches gesehen und erfahren, doch er wollte darüber nicht selbst zum Unmenschen werden.
Aber jetzt aufzugeben kam auch nicht infrage. Er musste es bis nach England schaffen.
B IHAR , I NDIEN
»Noch ein paar Scampi, Barry? Noch ein Glas Barolo?«, fragte Gundula abends im Garden Restaurant mit einem betörenden Lächeln.
»Nein, danke.« Er strich sich über den flachen Bauch. »Diese Büfetts bringen mich noch um.«
»Jetzt beschwert er sich, dass das Essen zu gut ist.« Milan Gorkic schenkte sich großzügig Wein nach. Seine Augen waren schon ein wenig glasig. Julia vermutete, dass er kurz vor einem Lagerkoller stand und seine Langeweile mit Alkohol betäubte. Sie aßen fast jeden Abend hier oder in dem anderen Restaurant von Serail Almond, dem Suriya . Wer kochte schon für sich allein in der Pantryküche eines Ein-Zimmer-Apartments, wenn er sich für eine lächerlich geringe Summe am Büfett bedienen konnte?
»Das Essen ist nicht zu gut – es ist die pure Verschwendung«, ereiferte sich Barry. »Die Hälfte davon schmeißen die hinterher weg.«
»Das glaube ich nicht. Wir sind hier in Indien«, protestierte Milan.
»Meinst du nicht?«, entgegnete Gundula, die wie immer nur Salat vor sich stehen hatte. »Wir werden hier jedenfalls versaut für den Rest unseres Lebens.«
»Verschwendung, wohin man schaut«, empörte sich Barry.
»Kennt ihr schon Serail Almonds neueste Manie?«, fragte Milan mit gedämpfter Stimme. »Ich bestell was, beispielsweise neue Luftfilter oder Telefonieschalldämpfer. Und nach ein paar Tagen bekomme ich per Mail eine Kopie der Auftragsbestätigung. Darauf ist alles doppelt bestätigt. Wenn ich deswegen nachfrage, wird abgewunken. Das sei schon richtig so. Sicherheitsredundanz.«
»Ist mir auch schon passiert«, sagte Gundula mit einem raschen Blick über ihre Schulter. »Als ob sie nicht wüssten, wohin mit den Dollars.«
»Denen geht’s einfach zu gut«, erklärte Barry. »Verschwendung ist meistens der Anfang vom Ende.«
»Genießen, solange es geht – das ist mein Motto«, sagte Milan und ging noch mal zum Büfett.
»Habt ihr eigentlich schon was vom Land gesehen?«, fragte Julia, die sich inzwischen mit ihren neuen Kollegen duzte.
»Kein Interesse«, antwortete Barry träge.
»Du kannst dich für Ausflüge eintragen – vorn im Holiday-Center«, informierte Gundula sie.
»Ich hab aber nicht an organisierte Ausflüge gedacht.«
»Willst du so richtig mit Rucksack von Ashram zu Ashram trampen?« Barry grinste. »Ist nur zu empfehlen, wenn du einer Kolonie Leprakranker in verschiedenen Stadien des
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