Dornteufel: Thriller (German Edition)
losließ. Das, was ihm Anthony Graziano, sein Vorgesetzter, mittlerweile an Arbeit anvertraute, könnte ein ambitionierter Achtjähriger erledigen. Doch er brauchte eine Beschäftigung, die so anspruchsvoll war, dass seine Gedanken ständig darum kreisten. Und es war einfacher, sich mit der Krankheit und dem Tod der jungen Frau auseinanderzusetzen als mit seinem eigenen Verfall. Wen interessierte schon sein Schicksal? Er würde über kurz oder lang ein weiterer Krebstoter in der New Yorker Statistik sein. Moiras Tod hingegen war ein Rätsel. Und er wollte es lösen, selbst wenn es das Letzte war, womit er sich beschäftigte.
Oben angekommen, stieß er eine schwere Glastür auf und durchquerte eine schwach beleuchtete Halle, bis er vor einem Empfangstresen stand. Die Dame dahinter musterte ihn kurz und setzte dann ihr Telefonat fort. Hinter einer weiteren Glastür befand sich ein Warteraum, wie in einer Arztpraxis. Doch schicker eingerichtet als bei den Ärzten, die Ferland konsultierte. Niemand wartete, der Raum war leer. Durch verdeckte Lautsprecher dudelte einschläfernde Musik.
»Guten Morgen! Womit kann ich Ihnen helfen?« Die Frau hinter dem Tresen zog eine Grimasse, die wohl ihr professionelles Lächeln darstellte, das aber selbst Caligula in seine Schranken verwiesen hätte. Alles an ihr war spitz: ihre Nase, die Fassung ihrer Brille und sogar ihre weiß lackierten Fingernägel.
»Ich bin vom NYPD und ermittle im Fall des plötzlichen Todes von Moira Stern. Sie war Model und bei Millennium Faces unter Vertrag.«
»Oh, das sind viele … Wie war noch gleich der Name des Mädchens?«
»Moira Stern.«
Sie tippte auf ihrer Tastatur. Klick, klick, klick machten die Fingernägel.
»Die wurde schon länger nicht mehr gebucht«, sagte sie geringschätzig.
»Sie ist ja auch tot.«
»Ach? Und wieso weiß ich nichts davon? Dann muss ich sie ja von der Liste nehmen.« Sie schüttelte den Kopf.
»Wann hatte sie denn zuletzt einen Auftrag?«
»Das darf ich Ihnen nun wirklich nicht mitteilen.« Da könnte ja jeder kommen, schien sie zu denken und schürzte ihre Lippen.
»Und wer kann mir da Auskunft geben?«
»Oh, tut mir leid. Das sieht ganz schlecht aus heute. Heather ist nicht da. Und Tom kommt auch erst morgen wieder ins Büro. Wollen Sie vielleicht einen Termin vereinbaren?« Sie sah nicht begeistert aus.
Ein Termin war schwierig. Ferland wusste nicht, wann er sich in den nächsten Tagen wieder loseisen konnte. »Ich muss kurzfristig mit jemandem sprechen, der Moira Stern kannte. Eine Kollegin vielleicht?«
»Bedaure«, erwiderte die Frau und nahm das nächste Telefonat an. » Millennium Faces , mein Name ist Gilly Shaw, was kann ich für Sie tun?«, flötete sie in das Mikro ihres Headsets.
Er legte eine seiner Karten auf den Tresen und wandte sich ab. Doch statt zum Ausgang schlenderte er durch die Halle und sah sich um, einfach um Miss Shaw noch ein wenig auf den Geist zu gehen. Konnte sie etwa riechen, dass er keine offizielle Befugnis hatte, hier zu ermitteln? Die Hoffnung, in diesem Haus auf ein menschliches Wesen zu treffen, mit dem er sich über Moira Stern unterhalten könnte, hatte er schon aufgegeben, da rumpelte es hinter seinem Rücken, und wenige Augenblicke später strich ein kühler Luftzug durch die Halle. Ferland drehte sich um und sah eine junge Frau, die auf mörderisch hohen Absätzen über den schwarzen Granitfußboden stolzierte. Sie warf eine Mappe auf den Tresen, beugte sich vor und sprach erregt auf Gilly Shaw ein, die ihr Telefonat inzwischen beendet hatte. Die Frau mit den hohen Absätzen hatte ihr Kinn kampflustig vorgereckt; ihr Gesicht war blass, und das schwarze Haar hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden. Er konnte ihre Ohren sehen, die rot glühend ihre Gemütsverfassung verrieten.
»Du kannst das nur mit Heather klären, Kim«, sagte die Empfangsdame schließlich genervt. »Und das sieht ganz schlecht aus heute.« Offensichtlich ihr Standardsatz.
Die junge Frau entgegnete etwas, das Ferland nicht verstehen konnte. Er näherte sich ein wenig dem Tresen, um besser lauschen zu können.
»Heather ist morgen ab elf wieder da«, wurde ihr gnädig mitgeteilt.
»Morgen ist es zu spät. Da ist der Auftrag doch gelaufen.«
»Tut mir leid, Kim … Willst du einen Termin vereinbaren?«
Gilly Shaw hatte es auch nicht ganz leicht, dachte Ferland und sah zu, dass er aus der Halle kam. Im Treppenhaus lehnte er sich neben dem Fahrstuhlschacht gegen einen Pfeiler und wartete. Ein
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