Dornteufel: Thriller (German Edition)
zurück, und die Tür schwang auf. Leise schlich Julia die Stufen hinauf und fand sich in einer Gasse wieder. Sie wandte sich nach links, hastete durch die schmale Straße und landete wenig später auf einem größeren Platz. Um sie herum wuselten Inder und auch ein paar Touristen. Auf der anderen Seite des Platzes sah sie Hauseingänge und kleine Geschäfte. Sie drängte sich durch das Gewühl und dachte dabei, dass mittlerweile wahrscheinlich alle Polizisten dieser Stadt eine Personenbeschreibung von ihr erhalten hatten. In Gedanken verfluchte sie den leuchtenden Farbton ihres Saris und ihre Körpergröße. Als sie vor sich eine Polizeiuniform aufblitzen sah, reagierte sie sofort und stolperte seitwärts in eines der Geschäfte.
Ein uralter Mann saß zwischen einem Wirrwarr von Produkten, die man wohl als Kolonialwaren bezeichnen konnte, und starrte sie aus sehr hellen Augen an. Julia fragte auf Englisch nach einem zweiten Ausgang. Er reagiert nicht, blinzelte nicht einmal.
»Bitte, helfen Sie mir!« Sie zog einen Geldschein hervor und drückte ihn in seine Hand, die auf dem Verkaufstresen ruhte.
Er betastete den Schein, starrte aber weiter an ihr vorbei. Sie wollte schon hinauslaufen, denn der Verkaufsraum schien eine Sackgasse zu sein, doch da drehte der Mann seinen Kopf, steckte den Geldschein in seinen Ärmel und murmelte etwas. Julia blickte in die Richtung, in die er sich gewandt hatte. Mit einem Mal bemerkte sie den Perlenvorhang, der hinter allerlei Waren, die von der Decke hingen, so gut wie unsichtbar war. Sie schlüpfte dahinter, landete in einem Hinterzimmer mit Bett, Tisch und Hocker und gelangte von dort in einen Innenhof. Sie ging an einem Ziegenverschlag vorbei, passierte einen schmalen Durchgang und kam auf eine Parallelstraße zu der Gasse hinter dem Hotel. Julia winkte eine der vielen Fahrradrikschas herbei; und da ihr kein anderes Ziel einfiel, befahl sie dem Fahrer, sie zum Bahnhof zu bringen.
Es war eine schlechte Idee, wie sich herausstellte: Als sie sich dem Bahnhof näherten, standen bereits zwei Polizeiwagen davor … An einem lehnten zwei Uniformierte mit dunklen Sonnenbrillen, und einer von ihnen telefonierte. Offenkundig hatten ihre Verfolger in Betracht gezogen, dass sie die Absicht haben könnte, ihre Flucht im Zug fortzusetzen.
M ANHATTAN , N EW Y ORK , USA
»Ich hab vorhin einen Anruf aus dem OCME bekommen«, sagte Anthony Graziano, ohne von seinen Notizen aufzusehen.
Ferland zog sich unaufgefordert einen Stuhl herbei und setzte sich mit einem Ächzen vor den Schreibtisch. Ein Schreibtisch, der eigentlich ihm gehören sollte, hatte er früher oft gedacht. Inzwischen wollte er ihn nicht mehr. »In welcher Sache?«, fragte er.
»Wie viele Leichengeschichten hast du gerade am Laufen, Ryan?« Immer noch kein Augenkontakt. Dafür ein dezenter Hinweis darauf, dass Ferland nur noch Kleinscheiß zugeteilt bekam. Bis auf den Fall Moira Stern, aber der hatte ja auch als drohender Suizid mitten in einer saukalten Nacht begonnen, als gerade kein anderer da gewesen war.
»Soweit ich weiß, keine«, stieß Ferland hervor. Der Fall Stern war offiziell abgeschlossen.
»Dr. Rungford lässt ausrichten, dass ich meinen Terrier zurückpfeifen soll. Sie hat ihrem Bericht in der Sache Moira Stern nichts weiter hinzuzufügen.« Der Lieutenant sah immer noch nicht auf. »Und ändern wird sie ihn schon gar nicht.«
Ferland bemerkte, dass sich die Wangen seines Chefs gerötet hatten: Grazianos Gesichtsfarbe war ein zuverlässiges Barometer für seine Gemütsverfassung.
»Oh, dann hat Dr. Rungford meine Mails also doch bekommen. Ich dachte schon …«
»Dr. Rungford ist stinksauer. Sie überlegt, sich beim First Deputy Commissioner über dich zu beschweren.«
»Dann kommt ja was in Gang.«
»Meinst du? Was willst du dir damit beweisen?« Endlich richtete er den Blick auf Ferland. Aus seinen Augen sprühten Funken.
Vielleicht, dass ich noch am Leben bin , antwortete Ferland im Stillen. Tote provozieren nicht mehr diese Art von Ärger. Der tägliche Mist, wenn sich eine Behörde mit der anderen auseinandersetzen musste. Kompetenzgerangel um jeden Zentimeter Boden. Er warf einen Blick auf das gerahmte Foto, auf dem Grazianos perfekte Familie zu sehen war, die vor den Niagarafällen stand und den Betrachter angrinste. »Ich will beweisen, dass Moira Stern nicht einfach nur eine x-beliebige Suizidtote ist. Es gibt verdächtige Begleitumstände, die eine Untersuchung erfordern.«
Grazianos
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