Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
in Oak Ridge« beschriftet war, sah ich Männer und Frauen für Zigaretten anstehen, Jungen und Mädchen in Pfadfinderuniformen, Footballspieler in Helmen und Beinschützern, Baseballmannschaften in Mützen. Ich sah zwei hübsche junge Frauen – eine Weiße und eine Schwarze –, die zusammen in ein Buch schauten, die Schwarze zeigte mit dem Finger auf die Seite, während die Weiße laut vorlas. Der Blick der weißen Frau war glasig.
Ich sah Musiker spielen und Paare tanzen. Und unter den tanzenden Paaren entdeckte ich wieder Beatrice. Sie war eine fotogene junge Frau gewesen, und wenn ich während des Krieges Fotograf in Oak Ridge gewesen wäre, hätte ich sie auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit abgelichtet. Auf diesem Foto tanzte sie mit einem gutaussehenden, lächelnden jungen Mann, und er war nicht Leonard Novak. Ich überprüfte das Datum der Aufnahme: 1. August 1945. Zwei Wochen vorher hatte der Trinity-Test New Mexico erschüttert, fünf Tage später würde die Stadt Hiroshima dem Erdboden gleichgemacht werden, und acht Tage später würde Nagasaki dasselbe Schicksal erleiden. Und irgendwann in den Tagen oder Wochen, die der Aufnahme dieses Fotos folgten, würde der lächelnde junge Mann aus nächster Nähe erschossen und in einem flachen Grab beigesetzt werden, zusammen mit einem viele hundert Seiten dicken Typoskript. War es ein Bericht für die Nachwelt, oder waren es Geheimnisse für die Sowjets? Oder gar beides?
Ich wählte Emerts Nummer, und der Anruf ging direkt auf seine Voicemail. »Ich bin in der Stadtbücherei«, sagte ich, »und ich betrachte ein Foto, auf dem Beatrice am 1. August 1945 mit Jonah Jamison tanzt.«
Als ich auflegte, klingelte mein Handy, um mir anzuzeigen, dass ich eine Voicemail erhalten hatte. Während ich Emert eine Nachricht hinterlassen hatte, hatte der Detective mir auch eine hinterlassen. »Vielleicht war unser toter Dokumentarfilmer doch hinter einem dicken Fisch her«, lautete seine Nachricht. »Wir sind in seinem Hotelzimmer, und er hat eine Akte voller Transkripte vom Venona-Projekt.«
Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte mein Telefon. Es war noch einmal Emert, diesmal live und persönlich. »Clarkson hat einige interessante Notizen an den Rand dieser Venona-Telegramme geschrieben«, sagte Emert. Am 22. Juli 1945 war jemand mit dem Codenamen »Chekhov« von Oak Ridge nach Hanford gereist. In dem Telegramm hieß es weiter, »Pavlov« habe den Weg zu »Chekhov« gefunden und werde bald einen detaillierten Bericht des Projekts liefern. Clarkson hatte »Chekhov« unterstrichen und an den Rand daneben »Novak?« geschrieben. Er hatte auch »Pavlov« unterstrichen und daneben zwei Fragezeichen gekritzelt.
»Ich finde, wir sollten mal zusammen zu Ihrer Freundin Beatrice fahren«, sagte er, »und ihr noch ein paar Fragen über ihren Mann und ihren Freund stellen.«
38
Beatrice musterte die Kopie des Fotos, die ich in der Stadtbücherei gemacht hatte. Sie schaute von mir zu Emert.
»Jonah war ein gutaussehender Mann, nicht wahr? Ja«, sagte sie, »ich hatte eine Affäre mit ihm.« Sie wandte sich an mich. »Deswegen musste ich abtreiben lassen. Wie konnte ich ein Kind bekommen, dessen Vater sich meinetwegen erschossen hatte?«
Ich stutzte über die Beiläufigkeit, mit der sie das sagte, doch Emert schüttelte nur den Kopf. »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte er. »Warum sollte er sich Ihretwegen erschießen? Warum haben Sie nicht die Militärpolizei gerufen, als es passiert ist? Wie haben Sie die Leiche so weit da raus in die Nähe des Uranbunkers geschafft?« Der Mann feuerte Fragen ab wie Maschinengewehrsalven.
Jetzt war es an Beatrice, den Kopf zu schütteln. »Begreifen Sie denn nicht, dass der Skandal Leonards Karriere zerstört hätte, wenn ich es gemeldet hätte, und dass das Leonard zerstört hätte? Leonard hat die Leiche begraben. Um uns beide zu beschützen.«
Ich kam mir vor, als hinkte ich zehn Schritte hinterher und hätte große Mühe mitzuhalten. »Aber Leonard steckte doch sowieso in einem starken Gewissenskonflikt wegen seiner Mitarbeit am Bau der Atombombe«, sagte ich. »Vielleicht wäre er auch erleichtert gewesen, aus dem Projekt entlassen zu werden.«
»Nein, da täuschen Sie sich«, sagte sie. »Leonards moralisches Dilemma wegen der Bombe war seine Privatsache. Für einen so sensiblen Mann wie Leonard wäre eine öffentliche Bloßstellung unerträglich gewesen.«
»Wollen mal schauen, ob ich es verstehe«, sagte Emert. »Sie behaupten, er
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