Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
Aufzeichnungen, wie Klassenkameraden vor einer Arbeit. Wir rekonstruierten das, was Sorensen den »zeitlichen Ablauf des Vorfalls« nannte und was Miranda formvollendet mit »Kurs auf Gefahr« betitelte. Wie lange hatte ich gebraucht, um Novaks Leiche mit der Kettensäge aus dem gefrorenen Swimmingpool zu befreien? Zehn Minuten? Fünfzehn? Hatten Miranda und ich eine ganze Stunde gebraucht, um mit der Leiche im Pick-up zurück nach Knoxville zu fahren? Weitere fünfzehn Minuten, bis sie auf der Fahrtrage lag und in das Leichenschauhaus geschafft war? Als Emert am nächsten Tag die Kleider durchsucht und Novak identifiziert hatte, waren der Kriminalbeamte und ich dreißig Minuten in der Nähe der Fahrtrage gewesen oder eher vierzig? Wie viel Lebenszeit war verstrichen zwischen dem Augenblick, da Garcia mit der Obduktion begonnen hatte, und dem Moment, wo wir aus dem Leichenschauhaus geflohen waren?
Während wir noch über die Minuten debattierten, zuckte Garcia zusammen und entschuldigte sich hastig. Miranda blickte ihm hinterher, wie er in Richtung Toilette eilte, und sah mich an. »Ich mache mir Sorgen um Eddie«, sagte sie. »Das sieht nicht gut aus. Aber ich verstehe nicht, warum seine Symptome so viel schlimmer sind als die von uns anderen. Wir waren es doch, die bei der Entdeckung der Leiche dabei waren, nicht er.«
»Vielleicht ist es nur der Stress«, sagte ich, doch noch während ich es sagte, klang es irgendwie falsch in meinen Ohren. Plötzlich wusste ich es. »Verdammt«, sagte ich. »Die Obduktion.«
»Aber da waren wir doch auch dabei«, sagte sie. »Sicher, er war Novak näher, aber doch nicht so viel.«
»Nicht Novaks Obduktion«, sagte ich, »sondern die, die Eddie an dem Tag gemacht hat, als wir Novak zum Auftauen reingebracht haben. Wissen Sie noch? Wir haben die Fahrtrage an dem anderen Waschbecken abgestellt, direkt hinter Eddie. Er war über etliche Stunden gerade mal einen guten halben Meter von ihm weg.«
Miranda schlug sich die Hand auf den Mund. »O Gott«, sagte sie. »Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Er hat an dem Tag sogar zwei gemacht. Und am nächsten Morgen, vor Novak, noch eine. Oh, das ist schlimm, Dr. B., sehr schlimm.« Ihr Kinn begann zu zittern, und in ihren Augen standen Tränen.
Ich warf einen Blick zu den beiden Ärzten hinüber, die mit der Krankenschwester namens Darcy die Köpfe zusammensteckten. Sie nickte und verschwand hinter einem Vorhang. Einen Augenblick später tauchte sie wieder auf und schob einen Infusionsständer mit einem Infusionsbeutel vor sich her. Hinter der Toilettentür rauschte die Spülung. Rasch wischte Miranda sich mit den Handrücken die Tränen aus den Augen und schniefte kurz. Sie nahm Stift und Notizblock zur Hand, als Garcia die Toilettentür öffnete und matt auf uns zukam.
Ich schaute Garcia voller Mitgefühl an. »Schießt’s schon wieder?«
Er schüttelte den Kopf. »Anderes Ende.« Er verzog das Gesicht.
Miranda blickte bei der Erwähnung dieses zusätzlichen Symptoms von Garcia zu mir. Sorensen und Davies kamen auf uns zu.
»Dr. Garcia, wir würden gern einen Schritt weiter gehen und Ihnen eine Infusion anhängen«, sagte Davies, »weil Sie zu viel Flüssigkeit verlieren.« Garcia nickte; als Arzt hatte er wahrscheinlich geahnt, dass sie ihm das vorschlagen würden. »Und wir würden Sie auch gern zur Beobachtung hierbehalten.« Falls Garcia das ebenfalls kommen sehen hatte, ließ er sich nichts anmerken. Sein Gesicht zeigte bei Sorensens Worten einen Ausdruck zwischen Schock und Verzweiflung, doch er nickte noch einmal. Wir gingen in einen angrenzenden Raum, und Eddie verschwand hinter einem Vorhang, wo er einen Kittel überstreifte, sich in ein Bett legte und eine Infusion angelegt bekam. Dann zog die Krankenschwester den Vorhang zurück, und wir versammelten uns um sein Bett, um mit der Rekonstruktion des zeitlichen Ablaufs fortzufahren.
»Eddie«, sagte ich, »vergessen Sie nicht zu schätzen, wie lange Sie in der Nähe von Novaks Leiche waren, während Sie die anderen Obduktionen durchgeführt haben.«
»Ich weiß«, sagte er. »Darüber habe ich eben vor einer Minute auf der Toilette nachgedacht. Ich war zehn oder zwölf Stunden da drin, einen halben bis einen Meter von ihm entfernt, und habe mich der Gammastrahlung ausgesetzt.« Er starrte auf seinen Notizblock, doch sein Stift bewegte sich nicht. Schließlich nahm er den Stift und fing an zu schreiben.
Sobald wir ausgerechnet hatten, wie lange wir aus welcher
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