Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
Sprengstoffexperten aus Los Alamos, über den Thornton und Miranda sich so heillos zerstritten hatten. Ein kleines Foto von Kistiakowsky oben auf der Seite zeigte einen Mann mit beginnender Glatze und tiefliegenden Augen und säuerlicher – vielleicht aber auch nur ernster – Miene. Das Foto stammte aus Kistiakowskys Dienstausweis aus Los Alamos. Ich überflog den Anfang des Artikels. »Hmm«, sagte ich. »Noch ein Russe.«
»Wie, haben Sie etwa gedacht, ›Kistiakowsky‹ klingt irisch?«
»Keine Ahnung, vielleicht polnisch«, sagte ich. »Ich meine nur, dass in Los Alamos wirklich viele Genossen herumgelaufen sind.«
»Ausgeschlossen, dass der Typ Kommunist war«, sagte sie. »Er war Anti-Kommunist, sehen Sie?« Sie zeigte auf den Absatz, wo es hieß, dass Kistiakowsky in der Weißen Armee gegen die Roten gekämpft hatte, bevor er in den Westen geflohen war. »Aber blättern Sie mal auf Seite zwei«, meinte sie. Während des Kalten Krieges, wurde ich auf der zweiten Seite informiert, hatte Präsident Eisenhower Kistiakowsky gebeten, an Amerikas Plänen für einen Atomkrieg zu feilen. Trotz des Widerstands des Vereinigten Generalstabs und des Strategic Air Command hatte Kistiakowsky die Kriegspläne überarbeitet und die National Nuclear Target List zusammengestellt – eine koordinierte Liste nationaler Atomziele, die bestimmten US-Bombengeschwadern und mit Atomwaffen bestückten U-Booten spezielle sowjetische und chinesische Ziele zuwies.
Ich konnte Mirandas Aufregung nicht ganz nachvollziehen. »Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Die Karriere dieses Mannes scheint alles zu verkörpern, wogegen Sie eintreten. Die National Nucelar Target List ist in Ihren Augen doch so etwas wie eine To-do-Liste für den Tag des jüngsten Gerichts.«
»Das ist sie auch«, sagte sie, »aber schauen Sie.« Triumphierend zeigte sie auf den letzten Absatz der Biografie. Kistiakowsky beendete seine Karriere, hieß es dort, indem er Vorsitzender des Council for a Livable World – Gesellschaft für eine lebenswerte Welt – wurde, der sich gegen Atomtests und für das Verbot von Atomwaffen einsetzte. Miranda hatte den Absatz mit rosa Leuchtstift markiert – eine passende Farbe, wie ich fand – und am Rand dazugeschrieben: »Zwei große Geister, ein Gedanke.«
»Gratuliere«, sagte ich. »Da haben Sie aber gewaltige ideologische Munition gefunden – mindestens zehn Megatonnen. Wollen Sie die heute über Thornton abwerfen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht nötig«, sagte sie und lächelte ein wenig. »Der Artikel war am Tag nach den Blumen in der Post. Er hat das markiert. Er hat die Randnotiz geschrieben.«
Das Zeitalter der Wunder war, wie es schien, doch noch nicht vorbei. Dann spürte ich, dass sich irgendwo unter meiner ersten Überraschung und Freude etwas Unangenehmes rührte. Eifersucht? Doch sicher nicht. Ich schüttelte es energisch ab.
In diesem Augenblick kam Arpads Subaru-Kombi aus der entgegengesetzten Richtung, wendete und parkte hinter der Geländelimousine der Wachleute und unserem Pick-up. Zwei Minuten später kam Emerts Polizeifahrzeug, kurz darauf gefolgt von einem weißen Ford F-150 Pick-up. Der Ford hatte eine größere Fahrerkabine, einen Aufbau über der Ladefläche und jede Menge Aufkleber, auf denen K-9 und SUCHE & RETTUNG stand.
Arpad stieg aus dem Subaru und trat an mein Fenster. »Das in dem weißen Pick-up ist Cherokee, der Leichensuchhund«, sagte er.
»Im Ernst?«, sagte ich. »Er ist ein guter Fahrer.«
»Möchten Sie mitkommen und ihn kennenlernen?«
»Klar«, antwortete ich. »Miranda? Möchten Sie den berühmten Cherokee kennenlernen?« Wir gingen zu dem Pick-up, und als wir am Wagen der Polizei von Oak Ridge vorbeikamen, öffneten Emert und sein Chef, Lieutenant Dewar, die Türen und folgten uns. Der Wachmann des ORNL sprang heraus und schloss sich ebenfalls der Prozession an.
Das Fahrerfenster des Ford wurde heruntergekurbelt. »Oh, oh«, sagte eine umgängliche Stimme von drinnen. »Sieht aus, als würde ich mächtig in Schwierigkeiten stecken.« Die Tür ging auf, und ein Mann stieg aus und hob die Hände, dann lachte er und schüttelte uns allen die Hand. Cherokees Chauffeur – sein Trainer und Hundeführer Roy Ferguson – war etwas über einsachtzig groß und um die sechzig, er trug eine Zweistärkenbrille und machte einen gelehrten Eindruck – was nicht überraschte, denn er hatte einen Doktor in Pädagogik –, aber er sprach und witzelte wie ein Junge vom Land. Roy
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