Dr. med. Erika Werner
welche Mühe er sich gab, ruhig zu sprechen.
»Ja?« sagte er. »Sie wissen –«
»Ihr Fräulein Tochter liegt bei uns. Chirurgische Klinik, Professor Doktor Rahtenau. Ich soll Sie im Namen des Herrn Professors anrufen. Ihr Fräulein Tochter kam gestern nacht zu uns, unangemeldet, und –«
»Ich komme sofort!« Die Stimme Herwarths war plötzlich etwas heiser. »Ein Unfall?«
»Nein –«
»Wie geht es ihr?«
»Herr Herwarth, ich muß Ihnen sagen, daß Ihr Fräulein Tochter gestern nacht –«
Am anderen Ende des Drahtes hörte Erika einen tiefen Seufzer. Dann wieder die Stimme Herwarths, gefaßt und klar.
»Ich komme sofort. Es … es ist mir rätselhaft … Ich – danke Ihnen, Frau Doktor … Ich –«
Die Stimme schwankte. Dann knackte es im Hörer. Herwarth hatte den Apparat niederfallen lassen. Langsam legte Erika den Hörer zurück. Hinter ihr knarrte die Tür. Der Kopf Bornholms sah durch einen Spalt herein.
»Alles klar, Liebes?« flüsterte er.
»Ja … Aber ich habe Angst, Alf –«
»Wovor denn noch?« Er lachte sie an. »Bis morgen …«
»Du gehst weg?!« rief sie. »Gerade jetzt?! Wer soll denn mit dem Vater sprechen?«
»Du … Du hast sie doch sterben gesehen –«
Die Tür klappte zu. Erika Werner sank auf ihr Bett und schlug beide Hände vor die Augen. Ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit überflutete sie.
Aber es gab jetzt kein Zurück mehr. Sie hatte den Totenschein ausgestellt, ihre Aussage lag schriftlich bei Professor Rahtenau. Sie mußte die Rolle weiterspielen.
Und sie tat es nur, um Bornholm zu schützen. Es war der einzige Grund, der ihr Gewissen besänftigte.
Lange stand Bruno Herwarth in der Kapelle vor der aufgebahrten Leiche seiner Tochter. Man hatte ihr Blumen in die gefalteten Hände gedrückt. Ihre schwarzen Haare flossen über die weiße Decke hinweg und hingen seitlich über den engen Sarg heraus. Ihr blasses Gesicht war voll Frieden. Sie sah nicht wie eine Tote aus, sondern wie eine glücklich Schlafende.
Erika Werner stand zwei Schritte hinter Bruno Herwarth. Sie beobachtete ihn. Er stand vor dem offenen Sarg, die Hände aneinandergelegt, und starrte wortlos auf das Gesicht Helgas. Er war wie versteinert in seinem Schmerz. Aber zu dem Schmerz trat das völlige Unbegreifen, wie es möglich gewesen sein konnte.
Am Abend hatte er sie noch gesprochen, als er von einer Besprechung des Städtischen Bauausschusses zurückkam. Sie hatte gerade zu Abend gegessen und sagte, daß sie ins Kino wollte. Sie war wie immer, ein wenig frech, ein wenig zu temperamentvoll, ein Erbgut der Mutter, die Spanierin gewesen war und vor sechs Jahren bei einem Autounfall den Tod gefunden hatte.
Mit gesenktem Kopf wandte sich Bruno Herwarth ab. Aus verschleierten Augen blickte er Erika Werner wie ein bettelndes Tier an.
»Verstehen Sie das?« fragte er leise. »Nie war sie krank, nie hat sie über ihr Herz geklagt … und auf einmal stirbt sie in ein paar Minuten an Herzschwäche … Das kann man einfach nicht begreifen …«
»Es war uns allen ein Rätsel, Herr Herwarth.« Erika holte tief Atem, um ruhig weitersprechen zu können. »Auf Veranlassung Professor Rahtenaus hat Herr Dozent Doktor Bornholm sofort eine Obduktion vorgenommen. Es war einwandfrei ein Herztod …«
»Ich glaube es ja. Was soll es sonst auch gewesen sein? Sie war immer ein lebenslustiges Mädel …« Er stockte. In seine Augen quollen Tränen. Nach Haltung suchend nagte er an der Oberlippe. »Nun bin ich ganz allein …«, sagte er kaum hörbar.
In diesem Augenblick haßte Erika Dr. Bornholm mit einem Abscheu, der unbeschreiblich war.
Am Vortage der Beerdigung Helga Herwarths ordnete Bruno Herwarth den Nachlaß seiner Tochter. Er hatte das Zimmer seiner Tochter seit ihrer Großjährigkeit selten betreten. Sie hatte sich eine eigene, andere Welt aufgebaut, mit abstrakten Bildern an den bunten Wänden, Jazzplatten, Modellzeichnungen und verrückten Plastiken. Hier gab sie ihre kleinen Feste mit gleichaltrigen Freundinnen, hier lag sie auf dem Teppich vor dem Plattenspieler und hörte die neuestens Hits an. Bruno Herwarth ließ ihr ihre Vergnügungen. Er kam aus einer steiferen Welt, aber er tolerierte seine moderne Tochter und fragte nie, wo sie abends hinging, mit wem sie sich traf, ob sie Freunde hatte, Männerbekanntschaften, Erlebnisse … Er vertraute ihr, weil sie seine Tochter war mit seinem Charakter. Selbst als sie einige Nächte ausblieb, verlangte er keine Erklärung, weil sie sie ihm selbst
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