Dr. med. Erika Werner
unaufgefordert gab. Sie war bei einer Freundin geblieben, deren Mutter plötzlich krank geworden war.
Nun saß er in diesem bunten, nach einem süßen Parfüm duftenden Zimmer und packte die Platten zusammen, die Bücher, die Modezeichnungen, und bei jedem Griff zuckte sein Herz und stieg der Schmerz wie ein drängender Schrei in seiner Kehle empor.
Unter den Büchern waren auch zwei schwarze, dicke Hefte. Nur weil sie aus seiner Hand fielen und aufklappten, sah er sie näher an.
Die Blätter waren eng beschrieben. Helgas Handschrift. Bruno Herwarth bückte sich und hob die Hefte auf. Auf der ersten Seite, umkränzt von gemalten Blumen, stand in Helgas charakteristischer steiler Handschrift der Titel.
›Mein schönes, junges Leben.‹
Bruno Herwarth zögerte, die nächste Seite aufzuschlagen. Sie hat ein Tagebuch geführt, dachte er. Ein Buch der Erinnerungen. War es ein Vertrauensbruch, wenn er ihre Aufzeichnungen las?
Bruno Herwarth setzte sich ans Fenster und begann zu lesen. Sie ist tot, dachte er. Und ich werde vielleicht eine Tochter kennenlernen, an der ich in all den Jahren vorbeigegangen bin. Eine andere Helga. Vielleicht schreibt sie etwas über ihre Krankheit …
Die ersten Seiten waren belanglos. Plapperndes Geschwätz über Mode und Kleider, über eine Freundin und einen Film. Doch dann kam eine Stelle, die Bruno Herwarth mit wachsendem Interesse las.
»Er ist wunderbar. Groß, schlank, mit etwas grauen Schläfen. Er tanzt wie ein junger Gott, spricht wie ein Genie und hat die Augen eines Jungen. Monika sagte mir ins Ohr, daß er bald sehr berühmt sein wird. Ein Forscher. Den ganzen Abend hat er nur mit mir getanzt, und ich war selig. Aber ich habe es ihm nicht gezeigt. O nein … ich war kratzbürstig und spröde. Aber wenn er nicht hinsah, hätte ich ihn umarmen können. Welch ein Gefühl – Ist das die Liebe auf den ersten Blick?!«
Und zwei Tage später:
»Ich bin glücklich, glücklich, glücklich. Allen könnte ich es zurufen … den Bäumen, den Autos, den Häusern, den Spatzen auf den Dächern, den Wolken, der Sonne, dem Wind … Ich liebe ihn! Als er mich zum erstenmal küßte, war es, als gehe die Welt unter, falle der Himmel herab und bräche die Erde mit einem Knall auf. Ich war wie besinnungslos. Noch nie hat ein Mann mich so geküßt. Ich glaube, wenn er … Nein, nein … ich will nicht daran denken. Wer mich ansieht, muß sehen, wie glücklich ich bin. Ich möchte am liebsten mit einer dunklen Brille herumlaufen; jeder kann meine leuchtenden Augen deuten …«
Bruno Herwarth ließ das Heft sinken und starrte hinaus in den Garten seines Hauses. Ein Mann, dachte er. Sie hat ein Erlebnis gehabt, meine kleine Helga. Und es muß ein älterer Mann gewesen sein. Sie schreibt von grauen Schläfen …
Eine drängende Wut auf diesen Unbekannten kroch in ihm hoch. Mit bebenden Fingern blätterte er weiter … er überschlug ein paar Seiten, Tage, Wochen …
»Mir war immer in der letzten Zeit so merkwürdig. Und Alf sehe ich kaum noch. Er hat mit seinen Forschungen soviel zu tun. Und dabei habe ich solche Sehnsucht nach ihm. Ich träume von ihm, und abends drücke ich das Kissen unter meinen Kopf und bilde mir ein, ich läge in seinen Armen … wie damals unter dem zusammenbrechenden Himmel, 2.000 Meter hoch. Zwei Adler in einem Horst, den keine Welt mehr stört …«
Bruno Herwarth umklammerte das schwarze Heft. Vor seinen Augen tanzten die Buchstaben. Dann las er weiter, den Mund halb offen, als ersticke er an der Wahrheit, die er las.
»Jetzt weiß ich es, was es ist, das Merkwürdige in mir. Und ich werde es morgen Alf sagen. Er muß mir helfen. Er kann es ja. Nie darf Vater das erfahren, er würde mich halb totschlagen und hinauswerfen. Er würde es nie verstehen, wenn ich sagen würde: Ich liebe ihn doch. Nein, es darf nicht sein. Alf muß mir helfen … was soll ich jetzt mit einem Kind …«
Bruno Herwarth warf das Buch auf den Boden. Er sprang auf. Sinnlose Wut durchströmte ihn, machte ihn fast tobsüchtig. Er zertrat die Platten, die er auf dem Boden gestapelt hatte, stieß die Bücher um und rannte wie irr in dem Zimmer auf und ab.
Ein Kind! Helga erwartete ein Kind!
Eiskalt packte ihn plötzlich ein neuer Gedanke. Mitten im Zimmer blieb er stehen.
Es war kein Herztod, durchfuhr es ihn. Es war ein Selbstmord! Die Diagnose in der Klinik war falsch. Die Obduktion war falsch. Dieser Alf, den sie beschreibt, dieser Schuft, er hatte sie fallengelassen, und aus
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