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Dr. Ohio und der zweite Erbe

Dr. Ohio und der zweite Erbe

Titel: Dr. Ohio und der zweite Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Stichler
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weit geschwungenen Bogen auf Épernay zu.
    Kaum war Boris aus der Einfahrt gerollt, wurde der Regen schwächer, als hätte er nur darauf gewartet, noch jemanden ordentlich zu duschen, um dann seine Tätigkeit nach und nach einzustellen. Als er an den Weinbergen vorbei auf Épernay zusteuerte, klarte im Nordwesten der Himmel auf – und schließlich brach eine warme, fast stechende Sonne durch die Wolken. Der Asphalt und die Erde dampften und das feine Sprühwasser vernebelte die Sicht, sodass Boris seine dunklen, murmelgleichen Augen konzentriert zusammenkniff, um noch etwas zu sehen.
    Der Wagen holperte über eine Unebenheit, ein Schlagloch vielleicht oder ein platt gefahrenes Tier. Ob wohl etwas vom Wesen des Tiers an mir hängen bleibt?, dachte Boris, erschrocken von der unerwarteten Erschütterung. An meinem Reifen oder an mir. Er sah es vor sich, platt, das rote Fleisch, die Eingeweide zeichneten sich in weißlichen Schlingen darauf ab. Gürteltier. Es ist hart und ausgetrocknet und liegt schon einige Zeit da. Das Naturkundemuseum kam ihm in den Sinn. Der Regen wird es aufweichen und wieder ein Stück wegspülen, der Vergessenheit entgegen. Vergessenheit, bei Tieren ist das doch keine Kategorie, unterbrach er sich fast ärgerlich.
    Ach, der innere Monolog, man kann über ihn sagen, was man will: Den Autofahrer erwischt er doch fast automatisch. Und Boris fragte sich: War ihm der Begriff Gürteltier wegen der Autoreifen oder wegen der Windungen der Gedärme in den Sinn gekommen? Er hatte die Avenue de Champagne erreicht, fuhr ein Stück hinunter und bog dann links ab in einen großen Hof.
    Mathematischen Kurven gleich, deren Parameter nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich genau aufeinander abgestimmt sind, die sich annähern und schließlich zwangsläufig schneiden, kamen Boris, Dr. Ohio und Erika zur selben Zeit auf dem Parkplatz des Weinguts Mercier an. Ohio und Erika hatten auf der Suche nach dem Erben Höpfners allerdings schon einige Tage in Épernay verbracht und waren inzwischen nicht mehr so sicher, dass sie ihn finden würden. Um ehrlich zu sein, hatte sich Ohio dazu entschlossen, morgen, spätestens übermorgen abzureisen, sollte sich nichts Entscheidendes tun. Und was sollte sich schon tun? Er hatte sich mit Erika die Hacken wund gelaufen. Sie waren auf dem Einwohnermeldeamt gewesen, im Touristenbüro, sie hatten alle größeren Restaurants, Hotels und Bars abgeklappert. Sie hatten Leute gefragt und ein Bild von Schmidt vorgezeigt. Immerhin waren Boris und Karl ja Zwillinge.
    Fehlanzeige. Keiner kannte Boris. Im Nachhinein, sagte sich Dr. Ohio, war es ein bisschen blauäugig gewesen, einfach so nach Épernay zu fahren, um einen Mann zu finden, von dem er rein gar nichts wusste. Épernay war keine große Stadt, aber es reichte, um sich zu verstecken oder – verstecken musste sich Boris ja gar nicht, er wusste ja noch nicht einmal, dass er gesucht wurde – einfach nicht gefunden zu werden. Und dann das Umland: Diese Hänge mit den langen Schlangen von Weinstöcken und kleinen Dörfern, die sich zwischen sie schmiegten, von denen kleine, gewundene Straßen wegführten wie Adern, die den Organismus mit dem lebensnotwendigen Saft versorgten. Champagner.
    Und das war noch nicht alles. Unten im Tal führte die Marne zu anderen, kleineren Städten, die in Reichweite von Épernay, höchstens ein halbe Stunde Autofahrt entfernt, lagen. Und oben, am Saum des Marnetals, zogen sich lang gestreckte, alte Wälder, in denen weitere Dörfer steckten, alte, verfallene oder eben renovierte Gutshöfe, Schlösser, Winkel, Plätze, an denen sich, überall verteilt, Menschen aufhielten. Diese Weite des Landes, die vielen Schlupfwinkel, die es bot, waren zum Verzweifeln, vor allem, wenn man aus Japan kam, wo die Bevölkerung so zahlreich und der Boden so begrenzt ist.
    So waren Ohio und Erika also seit Tagen unterwegs auf der Suche nach Boris. Abends gingen sie in das kleine Restaurant in ihrem Hotel. Dr. Ohio hatte sich schnell an den Champagner gewöhnt, der hier zu allen Tageszeiten, als Aperitif oder auch zum Essen, getrunken wurde. Eigentlich mochte er stille Weine lieber, aber der Champagner hatte etwas Verspieltes und doch die nötige Tiefe, um ihn für sich zu gewinnen. Er freute sich an den Reflexen, die von grünlichgelb bis zu lachsfarben reichten, und an den vielfältigen Aromen, die er erstaunlich schnell herauszuschmecken glaubte.
    Erika nahm Champagner zu sich, als hätte sie nie etwas anderes getrunken.

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