Dr. Ohio und der zweite Erbe
fragte am Schalter nach den nächsten passenden Zügen. Natürlich war es ein gewisses Wagnis, seine Opfer aus den Augen zu lassen. Theoretisch könnte die Sache mit dem Bahnhof eine Finte gewesen sein, um ihn in die Irre zu locken. Und während er sich nach Zugverbindungen erkundigte, würden die drei die Stadt mit dem Auto verlassen. Trotzdem war es unerlässlich. In seinem Hirn begann ein neuer Plan zu reifen, sollten sie tatsächlich mit dem Zug fahren. Und dafür wäre ihm die Pistole sowieso hinderlich gewesen. Im Zug hätte er sie nicht benutzen können. Es gab dort zu viele Zeugen und zu wenig Fluchtmöglichkeiten.
Zu seiner Erleichterung erfuhr er, dass es an diesem Abend keine vernünftige Verbindung nach Süddeutschland mehr gab. Die einzige Möglichkeit wäre ein Umweg über Paris, und er glaubte nicht, dass sie das auf sich nehmen würden. Wollte er seinen Plan, der immer mehr Gestalt annahm, durchführen, dann brauchte er Zeit. Er musste dafür noch ein paar Besorgungen machen. Also setzte er alles auf eine Karte. Wenn Gott ihm noch eine Chance einräumen wollte, dann würden Dr. Ohio, seine Assistentin und Boris erst morgen fahren. Pünktlich zum Morgengrauen würde er wieder vor dem Hotel wachen, um sie nicht zu verpassen.
Wieri hatte richtig getippt. Tatsächlich hatten die drei Tickets für den Zug am nächsten Tag. Sie fuhren mit dem Taxi zum Bahnhof, Wieri folgte ihnen im nächsten. Er schleppte einen schweren Rucksack und trug eine Schaffneruniform der französischen Bahngesellschaft SNCF. Den ganzen letzten Abend hatte er mit Vorbereitungen für seinen Plan verbracht.
Auf dem Bahnhof herrschte viel Betrieb, den Zug am späten Vormittag nahmen aber nur wenige Leute, sodass Boris, Dr. Ohio und Erika ein Abteil für sich allein hatten. Die Schiebetür stand halb offen und ließ das Raunen vereinzelter Stimmen aus den Nachbarabteilen und dem Gang herein. Ab und zu sausten ein paar Kinder vorbei, die von ihrer Mutter wieder eingefangen wurden. Mehrere Male ging auch Wieri in seiner Uniform an ihrer Tür vorbei, ohne dass sie ihn erkannt hätten, und traf die letzten Vorbereitungen für seinen perfiden Plan.
Der Zug fuhr an. Dr. Ohio sah aus dem Fenster. Das schöne Wetter der letzten Tage hatte einem bedeckten Himmel und Nieselregen Platz gemacht, der die vorüberziehenden Weinberge, den Fluss und die Dörfchen mit einem schmutzigen, grauen Schleier bedeckte. Sie hatten die Stadt schnell hinter sich gelassen und auch der Fluss war nicht mehr zu sehen. Die Strecke führte durch einen triefenden, dunklen Wald, dessen Tannen die schweren Äste wie verletzte Flügel hängen ließen. Ans Marnetal und die umliegenden Wälder schlossen sich endlose Felder an. Nur eine einzelne Scheune oder eines von vielen Kriegerdenkmälern durchbrach ab und zu die Eintönigkeit. Ohio fragte Boris danach.
„Ja, Doktor“, sagte Boris ein wenig gönnerhaft, reckte die Arme und richtete sich in seinem Sitz auf. „Wir fahren durch ein geschichtsträchtiges Stück Frankreich. In der Kathedrale in Reims wurden die meisten der französischen Könige gekrönt. Und diese Erde hier ist fett vom Blut von Millionen von französischen und deutschen Soldaten. Die Denkmäler stammen aus dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Hier in der Gegend fanden große Schlachten statt.“
Erika sah Boris missbilligend an und holte sich ein Buch aus ihrer Reisetasche. Dr. Ohio nickte ein paarmal langsam und sah wieder nach draußen.
Trist wehte ein leichter Wind den Regen über das stumpfe, scheinbar endlose Gelb des Weizens und der Sonnenblumen und färbte die in Stein gemeißelten Gesichter der Soldaten dunkelglänzend. Ihre Gewehre mit aufgesetzten Bajonetten richteten sie halb abwehrend, halb vorwärtsdrängend gen Himmel. Würde man ein Stück Papier fliegen lassen, dachte Dr. Ohio, dort hinten, am blassen Horizont, würde es bestimmt über den Rand der Welt geblasen und sich im unendlichen Grau des Universums verlieren. Hier war also das Ende der Welt.
„Was haben denn die Japaner im Ersten Weltkrieg getrieben?“, fragte Boris plötzlich.
Dr. Ohio war unangenehm berührt. Er mochte das glimmend aufscheinende Interesse in der Tiefe von Boris’ dunklen Augen nicht. Und das Thema lag ihm nicht, er hatte sich nie weiter gehend damit beschäftigt. Auch sein Land konnte auf eine lange und nicht immer ruhmvolle Militärgeschichte zurückblicken.
„Oh, wir Japaner“, sagte er gleichgültig und sah wieder nach draußen, „wir waren
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