Dr. Ohio und der zweite Erbe
wir dort sind.“
„Ich komme“, sagte Boris, warf Dr. Ohio einen Blick zu und rief über die Schulter: „Aber lassen Sie ja das Geschirr stehen. Das räume ich nachher auf.“
Ja, dieses Mal hatte Ohio sofort bemerkt, dass ein anderer Mann Interesse an derselben Frau hatte. Boris wollte das von Anfang an klarstellen, obwohl es nicht einmal einen Grund dafür gab. Aber hatte Ohio vor 25 Jahren überhaupt die Chance gehabt, Manstorffs Absichten Brigitte gegenüber zu erkennen? Er hatte nicht das Gefühl, dass Heinz ihm damals auch nur das kleinste Zeichen gegeben hatte, wie es um ihn stand. Aber möglicherweise hatte Ohio es einfach nicht verstanden?
„Möglich“, seufzte er und schenkte sich ein Glas Wein ein.
Er sah den beiden nach, wie sie durch die Wiese hinüberschlenderten zu den Bäumen. Boris war ein bisschen kleiner als Erika. Ihre schmalen Gestalten wurden noch halb von der Sonne angestrahlt, die Beine waren im Schatten. Erikas blondes Haar leuchtete. Boris’ schwarzer Schopf wandte sich ihr einmal zu und Dr. Ohio hörte sie laut lachen. Dann waren sie zwischen den Bäumen verschwunden.
Zum ersten Mal seit dem Anschlag war Ohio allein und konnte sich fragen, was um Himmels willen er hier eigentlich machte. Hatte er nicht genug mit seinen eigenen kleinen Sorgen zu tun? Sicher, niemand würde auf ihn schießen, während er sich überlegte, wie es denn eigentlich mit ihm weitergehen sollte, nachdem sein, nun ja, perverses System des leidtragenden Dritten zusammengebrochen war. Das war also in gewisser Weise weniger spannend als das Schicksal von Boris und dessen Bruder. Aber es war seines und er hatte auf einmal das dringende Bedürfnis, sich darum zu kümmern.
Weder er noch Brigitte wussten, was sie jetzt miteinander anfangen sollten. Beziehungsweise ob sie überhaupt etwas miteinander anfangen sollten. Und diese Tage mit Erika in der Champagne, die er so genossen hatte und während derer er kaum einen Gedanken an Brigitte verschwendet hatte? War das jetzt alles vergessen, weil ein junger Kerl ankam und einen Spaziergang mit ihr machte? Lächerlich, sagte Ohio sich. Aber er konnte es nicht ganz leugnen: Ein bisschen fühlte er sich wie ein verlassener Liebhaber, obwohl außer einer gewissen Vertrautheit nichts zwischen ihm und Erika gewesen war. Und er fühlte sich Brigitte gegenüber ein wenig schuldig, obwohl er sie gar nicht betrogen hatte. Und wenn schon, dachte er verächtlich. Wie sollte ich eine Frau betrügen, die seit 25 Jahren mit einem anderen Mann verheiratet ist? Ihr wäre es wahrscheinlich ganz recht gewesen, wenn ich ... Hm. Er sollte sich selbst einweisen, zu weiteren Schlüssen konnte er sich im Augenblick nicht durchringen.
Damit war das Thema vorerst für ihn erledigt. Er dachte an Värie Wieri und einen kurzen Moment sah er sich erschrocken um. Was, wenn der Finne ihnen trotz aller Vorsichtsmaßnahmen gefolgt war? Er saß hier wie auf dem Präsentierteller und die beiden anderen spazierten sorglos durch die Wiesen. Aber es war alles ruhig, nur die Bäume rauschten leise und ab und zu trug der Wind das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos zu ihm. Das Bild des Mannes, der niedergeschossen worden war, kam Ohio wieder in den Sinn. Wie er mit dem Gesicht nach unten neben den Schienen gelegen hatte. Und vor ihm die im kalten Licht der Neonröhren glänzende Digitalkamera. Das leise Röcheln.
Für Ohio stand außer Zweifel, dass kein anderer als Wieri die Schüsse auf Boris abgefeuert haben konnte. Laudtner kam dafür nicht infrage. Aber als Informant taugte er ganz gut, denn woher sonst sollte Wieri überhaupt wissen, wo sie sich aufhielten? Und der Calvinist? War offensichtlich übergeschnappt. Ohio hielt die Luft an. Wie betäubt starrte er auf sein Weinglas. Ein schrecklicher Verdacht wuchs mit blitzartiger Geschwindigkeit in ihm – war Höpfners Tod vielleicht gar kein Zufall gewesen? Konnte es sein, dass Wieri nachgeholfen hatte?
„Phuu, wenn die Sonne eine Weile weg ist, wird es aber ziemlich kalt hier draußen.“
„Ach, komm. Es ist Sommer. Stell dich nicht so an.“
„Mir ist trotzdem kühl. Hast du vielleicht eine Strickjacke in deinem Campingwagen?“
„Warte. Ich hol dir einen Pullover.“
Erika und Boris hatten sich offensichtlich auf ein dauerhaftes Du verständigt. Das war ja nicht weiter verwunderlich, schließlich waren sie ungefähr im gleichen Alter. Die beiden tauchten hinter dem schon fast dunklen Baum auf, unter dem das Auto stand, und Boris lief zum
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