Dr. Ohio und der zweite Erbe
auch keine Waisenknaben. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg haben wir Korea besetzt. Während des Krieges war Japan Verbündeter Großbritanniens und hat unter anderem die deutsche Kolonie in Tsingtao eingenommen. Böse Zungen behaupten, das geschah hauptsächlich wegen des Bierrezepts der Deutschen.“ Ohio lächelte unverbindlich. „Nun ja. Japan war, wenn es in der Weltpolitik mitmischte, immer auch ein kriegerisches, ein stolzes Land. Aber ich weiß nicht allzu viel darüber. Im Übrigen gab es in Japan eine lange Zeit der kompletten Abschottung von der Welt.“
Erika ließ kurz ihr Buch sinken und sah ihn nachdenklich an. Dann las sie weiter.
„Wie haben Sie meinen Onkel eigentlich kennengelernt?“, fragte Boris nach einer Weile und rüttelte Dr. Ohio erneut aus seinen Gedanken.
„Das war Zufall. In seiner Buchhandlung in Waldenbuch ... Unser Sanatorium liegt in der Nähe. Es war ein ähnlich trüber Tag wie heute.“
„Die beiden haben Schach gespielt, in einer unsäglichen Kneipe“, warf Erika ein. „Und Dr. Ohio hat ihm beigebracht, Haikus zu schreiben.“
„Beigebracht.“ Ohio lachte. „Ich hab es ihm in zweierlei Hinsicht nicht beigebracht“, betonte er. „Erstens bin ich kein Haiku-Lehrer und zweitens, das muss man leider sagen, hatte Ihr Onkel wenig Talent zum Dichten.“
„Haikus?“, fragte Boris.
„So nennt man kurze, japanische Gedichte. Sie haben seine Leidenschaft für die Calvin-Forschung abgelöst. Worüber Wieri sehr ärgerlich war. Er konnte nicht verstehen, wie man sein Interesse so abrupt von etwas so Erhabenem auf etwas dermaßen Profanes lenken konnte. Profan in seinen Augen.“
„Das klingt schon mehr nach meinem Onkel. Das war immer so: Er hat eine Sache angefangen, um sie im nächsten Moment liegen zu lassen“, sagte Boris ungnädig. Dr. Ohio kam seine Meinung ein bisschen angelernt vor. So als habe er das Urteil von jemand anderem übernommen. Von jemandem, den er nicht hinterfragte. Dr. Ohio tippte auf seine Mutter, Höpfners Schwester. Wahrscheinlich hatte Boris selbst seinen Onkel ja nur als Kind kennengelernt.
Eifrig ratterte der Zug über die Ebene, als hätte er einen wichtigen Auftrag zu erledigen. Linker Hand der Bahngleise verlief in einiger Entfernung ein großer Wald. Ab und zu brach jetzt die Sonne durch das eintönige Grau, dann regnete es wieder. Es war um die Mittagszeit, im Zug herrschte schläfriges, milchiges Waschraumlicht.
Dr. Ohio döste vor sich hin. Auch Boris hatte die Augen geschlossen. Beim Schlagen einer Tür dehnte und streckte er sich.
„Ich geh mal auf die Toilette.“ Er gähnte und deutete nach vorne.
Dr. Ohio war in den zwei Tagen, die sie noch in Épernay verbringen mussten, und auch kurz vor der Abreise auf dem Bahnhof sehr nervös gewesen. Jeden Moment hatte er damit gerechnet, dass etwas passieren könnte, dass Wieri oder wer auch immer seinen Anschlag auf Boris wiederholen würde. Erst als sie im Zug saßen, hatte er innerlich aufgeatmet und während der monotonen Fahrt waren seine Bedenken langsam eingeschlafen. Hätte er auch nur im Entferntesten geahnt, dass Wieri seine Vorbereitungen längst abgeschlossen hatte und sich nur wenige Meter entfernt von ihnen befand ...
Der Finne hatte im Übergang zum nächsten Waggon Posten bezogen und behielt die Tür ihres Abteils scharf im Auge. Lange hatte sich nichts getan und er befürchtete schon, Boris würde niemals herauskommen. Er kaute den letzten Rest seines Daumennagels ab und überlegte angestrengt, was er unternehmen sollte, als Boris die Tür öffnete und langsam nach vorne zur Toilette ging. Endlich. Wieri klopfte das Herz bis zum Hals.
Er hatte sich etwas wahrhaft Großes ausgedacht. Während Dr. Ohio, Boris und Erika sich vom eifrigen Rattern des Zugs einlullen ließen, hatte er die beiden angrenzenden Toiletten mit einem Gemisch aus Waschbenzin, Öl und ein bisschen Kalk präpariert. Er hatte sich die Zutaten gestern Abend beschafft und selbst zusammengemixt. Es war ein todsicherer Brennstoff und vor allem: Es war mit Wasser so gut wie nicht zu löschen. Die perfekte Todesart für Ketzer.
Wieri hatte das Zeug in dünner Schicht auf die Tür, den Fußoden und einige Plastikteile aufgetragen und dann eine Spur nach draußen gelegt. Wenn er es richtig berechnet hatte, musste er nur vor der Tür die Lunte anzünden, nachdem er die Toilette von außen verschlossen hatte, und Boris würde in der kleinen Kabine verbrennen oder durch die giftigen Gase ersticken wie auf einem
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