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Dr. Ohio und der zweite Erbe

Dr. Ohio und der zweite Erbe

Titel: Dr. Ohio und der zweite Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Stichler
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Scheiterhaufen.
    Man könnte vielleicht annehmen, dass die Aussicht auf einen solchen Tod Wieri ein kleines bisschen Mitleid für seinen Widersacher abringen würde. Das Gegenteil war der Fall. Der Calvinist war begeistert von seiner Idee. Beiläufig und ohne darüber nachzudenken, stellte er sie in eine Reihe mit den exakten Strafen der mittelalterlichen Inquisition. So klar und logisch lag alles vor ihm. Boris musste beseitigt werden. Sein Tod musste schmerzhaft und qualvoll sein. Das würde seine Seele reinigen und ihn von seiner Schuld befreien.
    Und folgte Wieri nicht einer Weisung, einer Offenbarung, die ihn sozusagen zum verlängerten Arm Gottes machte? Es ging ja nicht um Geld, es ging darum, unzählige Seelen zu retten. Er hatte gestern auch keine Skrupel gehabt, einem scheinbar unbescholtenen und unschuldigen Schaffner mit einer runden, handlichen Eisenstange ordentlich eins überzuziehen, ihn zu entkleiden und sich mit der Uniform davonzumachen. Es war notwendig. Er brauchte den Universalschlüssel für die Türen im Zug.
    Ob der Mann noch lebte? Das war unwahrscheinlich. Wieri hatte mehrere Male zugeschlagen, um ganz sicher zu gehen, dass er ihn nicht verraten konnte. Die Schirmmütze war hinten etwas lädiert, aber das fiel nicht weiter auf.
    In gebührendem Abstand folgte er Boris zur Toilette.
    Im Zug war es durch den warmen Regen und die stickige Luft schwül geworden. Ohio sah mit halb geschlossenen Augen aufs vorbeifliegende Land und fragte sich, ob er wach war oder schlief. Er hörte, wie Erika an der Tür mit einer Frau sprach, und wandte schwerfällig den Kopf. Die Frau hielt ein Kind an der Hand und schimpfte. Dann ging sie weiter nach hinten.
    „Was ist denn?“, fragte Dr. Ohio, als Erika sich wieder hingesetzt hatte.
    „Ach.“ Erika winkte ab. „Ihr Kleiner ist auf der Toilette in irgendwas reingetreten. Sie sucht einen Schaffner, um sich zu beschweren.“
    „Mhm.“ Ohio blinzelte. Er überlegte, ob er Erika fragen sollte ... Sollte er sie fragen? Und vor allem, wie sollte er sie fragen, was sie von Boris hielt? Und was würde sie antworten? Das musste er natürlich vorher wissen, denn sonst wäre die Frage absurd. Aber wenn er ihre Antwort wüsste, wäre die Frage überflüssig. War das ein Dilemma oder einfach Unsinn? Er beobachtete Erika dabei, wie sie ihn betrachtete. Dann lächelte sie. Ohio dachte an sie und Boris, wie sie in der untergehenden Sonne spazieren gegangen waren, um sich den Garten der Villa anzusehen.
    Auf einmal hatte er ein seltsames, flaues Gefühl im Magen, so als würden sich krampfartige Bauchschmerzen ankündigen. Wie ein elektrischer Schlag fuhr es ihm ins Hirn und das Blut schoss ihm in den Kopf. Er richtete sich abrupt auf.
    „Wie lange ist Boris eigentlich schon weg?“, fragte er äußerst ruhig.
    Erikas Lächeln erstarrte. Erst jetzt war Ohio sich sicher, dass sie ihn bis eben freundlich angesehen hatte. Es war, als würden ihre blaugrauen Augen einfrieren.
    „Ein bisschen zu lange, wenn man bedenkt, dass er auf eine stinkige Zugtoilette wollte“, sagte sie mit einem Blick auf die Uhr.
    Dr. Ohio sprang auf.
    „Ich gehe nachsehen.“
    „Ich komme mit.“
    In welche Richtung war Boris gegangen? Nach vorne, dachte Ohio und hastete den Gang entlang bis zur Toilette am Verbindungsstück zum nächsten Waggon. Schon von weitem konnte er das Toilettenschild sehen. Es zeigte ein rotes Männchen: Besetzt. Er war kaum um die Ecke gebogen, als er am unteren Türspalt dünne, weißliche Qualmschwaden hervordringen sah. Er drückte mit der Hand gegen die Tür und zog sie mit einem erschrockenen „Au“ wieder zurück. Sie war glühend heiß.
    „Schmidt!“, rief er. Ein ersticktes Husten antwortete ihm.
    „Ich versuche, die Tür einzutreten.“ Ohio nahm Anlauf, so viel der enge Raum hergab, und trat mit dem Fuß dagegen. Keine Wirkung, außer einem leichten Schmerz im Knöchel.
    „Wir brauchen einen Schaffner“, sagte Erika atemlos und sah sich um. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Aber ihr Blick fiel auf die Notbremse. Sie stieß Ohio an und zeigte auf den roten Hebel.
    „Natürlich“, murmelte er. Bei einem Nothalt würde auf jeden Fall ein Schaffner kommen, und der musste einen Schlüssel haben. Er zögerte kurz, dann zog er mit aller Kraft an dem Hebel. Ein Zittern durchlief den Zug, als würde er sich zusammenkrümmen. Schub und Bremse arbeiteten gegeneinander. Ohnmächtig stöhnend gab der Zug nach und wurde ruckartig langsamer. Ein

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