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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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aus. »Oder vielmehr ja, er hat mich nach Hause gebracht.«
Ich zuckte die Schultern. Er hatte sie nach Hause gebracht. Fall erledigt.
Sie hatte noch immer den Topf mit den Erbsen in der Hand, stand noch immer neben dem Tisch. »Aber ich werde dich nicht anlügen, John, keiner von uns wird das tun. So bin ich nicht, und ich glaube, das weißt du auch.« Schweigen, und ich schätze, irgendwo auf der Welt begegneten sich Schiffe in der Nacht, gingen Frachter unter, machte Eis die schmale Durchfahrt noch schmaler. »Wir ... wir hatten eine Beziehung.«
Ich starrte sie nur an.
»Im Büro. Auf dem Schreibtisch.«
»Im Büro«, wiederholte ich.
»Purvis und ich.« Ihre Augen blickten mit einem Mal kalt. »Nichts, worüber man sich Sorgen machen müßte.« Der Topf stand endlich auf dem Tisch, und sie wischte sich die zitternden Hände an der Schürze ab. »Du weißt ja, John«, sagte sie, »das menschliche Säugetier.«
    Etwa zu dieser Zeit führten wir unsere ersten Interviews mit Kindern durch, womit wir, wie viele zweifellos wissen, nicht nur ein lange bestehendes Tabu durchbrachen, sondern auch den Grundstein für die zahlreichen späteren Studien zur kindlichen Sexualität legten.
    Eigentlich bin ich, wenn ich die Ereignisse gedanklich rekonstruiere, beinahe sicher, daß unser erster Vorstoß in diesen Bereich gleich nach dieser beunruhigenden Szene mit Iris stattgefunden hat, gleich am nächsten Morgen, denn ich erinnere mich deutlich, wie aufgewühlt ich war und daß ich die ganze Situation im Geiste immer wieder hin und her wälzte, als wäre sie ein scharfkantiges Objekt, das ich abschleifen mußte, bis es so glatt war wie gebrannter Ton. Es war eigenartig. Als ich, unterwegs zur Fillmore School in Indianapolis, neben Prok auf dem Beifahrersitz des Buick saß und er mir einen Vortrag über frühkindliche Sexualität und das vorpubertäre Erwachen des Begehrens hielt, konnte ich nicht umhin zu denken, daß meine Gefühle sich auf Kollisionskurs mit meiner Objektivität befanden. Immer wieder sagte ich mir, ich sei Forscher, und Gefühle hätten in der Welt der Wissenschaft nichts zu suchen, da sie keinen quantifizierbaren Wert besäßen. Es war etwas Negatives, etwas, das mich disqualifizierte, eine Schwäche, die ich überwinden mußte. Prok hatte mich gut indoktriniert, und beinahe schaffte ich es über diese Hürde, doch jedesmal fiel ich wieder zurück. Ich konnte nicht anders.
    »Alles in Ordnung?« fragte Prok und musterte mich mit einem seiner bohrenden Blicke.
Ich war wohl hin und her gerutscht, hatte mit dem Knie gewippt und im Flackern der Lichter rechts und links der Straße das Kinn gereckt, als wäre ich unterwegs zu einem qualvollen Märtyrertod, aber wenigstens hatte ich nicht mit Corcoran zu tun, noch nicht. Prok hatte ihm drei Tage freigegeben, damit er sich um seine Angelegenheiten kümmern und nach South Bend fahren konnte, wo seine Tochter am Osterumzug teilnahm.
»Milk?« sagte Prok. »Hast du mich gehört? Ich habe dich gefragt, ob alles in Ordnung ist.«
»Ja«, sagte ich. »Mir geht’s gut.«
Der Motor summte. Die Landschaft zog vorbei. Prok legte den Kopf schräg und musterte mich erneut. »Kriegst du genug Schlaf? Ehrlich gesagt, Milk, siehst du nämlich aus wie ein lebender Toter.«
»Nein, ich ... äh ... letzte Nacht nicht.«
Er begann einen kleinen Vortrag darüber, wie unerläßlich die drei wichtigsten Faktoren – Ernährung, Körperertüchtigung und Schlaffür die Gesundheit seien, und war mitten in einem seiner langen, kunstvoll verschränkten Sätze, als er plötzlich innehielt. »Aber John«, sagte er, »was ist denn? Ist dir etwas ins Auge geflogen?«
Ich sagte, es sei bloß eine Allergie. »Heuschnupfen.«
Er schwieg einen Augenblick, wandte mir sein Gesicht zu und betrachtete mich forschend, bevor er wieder auf die Straße sah. »Ein bißchen früh dafür, nicht?«
Ich hatte Iris nicht zur Rede gestellt – wie denn auch? Wie hätte ich irgend etwas sagen können, ohne wie ein Heuchler zu erscheinen? Wir aßen schweigend, das Radio lief. Iris legte einen Text – Moderne britische Lyrik, mein altes Exemplar mit Anmerkungen – neben ihren Teller und starrte darauf, aber ich sah sie nicht umblättern, nicht ein einziges Mal. Als wir fertig waren, wollte ich abräumen, aber sie ließ mich nicht. »Nein, nein«, sagte sie und nahm mir den schmutzigen Teller aus der Hand – ich hatte so gut wie nichts gegessen, die Makkaroni waren wie durchweichte Pappe, obwohl ich gekaut

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