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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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hatte, daß ich glaubte, mir würde der Kiefer brechen –, »laß mich das machen. Du bist bestimmt müde.«
Sie war bleich, ihr Haar hing schlaff herunter, und ich wollte nicht daran denken, was mit den Locken geschehen war, auf die sie abends so viel Zeit verwendete und die sie morgens mit viel Mühe in perfekte Form brachte. Ich war tatsächlich müde. So müde, daß ich kaum die Arme vom Tisch heben konnte. »Gut«, sagte ich. »Okay.«
Ich schaffte es bis zum Sofa, und da lag ich dann, eine Hand flach auf der Stirn, während das Radio knackte und knisterte und das Wasser in die Spüle lief. Iris machte sich in der Küche zu schaffen; ich hörte ihr lange zu, dem Offnen und Schließen der Schränke, dem Zischen des Wassers, dem Klirren von Glas und Geschirr, und dann zündete ich mir eine Zigarette an und starrte an die Decke. Von irgendwo ertönte Band-Musik, eine Varieteshow, der Chiquita-Banana-Jingle – ich muß ihn an die zehnmal gehört haben. Schließlich kam sie zu mir. Ich spürte, daß sie neben dem Sofa stand, doch ich wandte nicht den Kopf. »John«, sagte sie, »John, bitte«, und ich hörte, wie sehr ihre Stimme von Gefühlen durchdrungen war, wie sie mich um Absolution bat, aber das ließ mich nur noch steifer und härter werden: Ich versteinerte wie ein Stück Holz, das äonenlang in den tiefsten Sedimentschichten gelegen hat. Ich sagte nichts. Sie hielt eine Ansprache, eine tränenvolle, von Schluchzern unterbrochene Ansprache – sie habe es nicht gewollt, es habe nichts zu bedeuten, die Leichtfertigkeit eines Augenblicks, und irgendwie habe sie ihm, Purvis, einfach nicht widerstehen können, er sei so überzeugend – , doch ich rührte mich nicht. Nach einer Weile ging sie ins Schlafzimmer und schloß die Tür.
Darf ich Ihnen sagen, daß ich mich fühlte, als hätte man mir einen Pflock durchs Herz getrieben? Ich wußte, warum sie es getan hatte – dazu brauchte man kein Psychiater zu sein. Sie hatte in ihrem Leben einen Mann gehabt, einen einzigen, und ich hatte Mac und Prok gehabt und außerdem andere, über die sie nur Vermutungen anstellen konnte. Das Projekt und unsere ganze Vorgehensweise erforderten geradezu, daß sie Erfahrungen machte – wir schätzten doch die »Hochaktiven«, ganz gleich, wie unvoreingenommen wir uns gaben, oder nicht? Ich wußte, wo die Schuldgefühle lauerten. Ich wußte, wer unrecht hatte. Aber wenn ich glaubte, was ich predigte, wenn ich an meine Arbeit glaubte – und das tat ich, das tue ich noch heute, aus tiefstem Herzen –, dann hatte ich kein Recht zu einem J’accuse.
In jener Nacht ging ich spät zu Bett, so spät, daß in den Büschen vor den Fenstern bereits die Vögel sangen und graues Licht durch die Vorhänge sickerte. Sie war noch wach. Ich sah sie im Bett liegen, und alle Traurigkeit der Welt ließ sich in meiner Kehle nieder, säuerlich, unbarmherzig, bis ich mich zusammennahm und sie hinunterschluckte. In diesem Augenblick wollte ich Iris haben, mehr als alles andere, ich wollte die Decke zurückschlagen, ihr das Nachthemd ausziehen und mich in sie hineinstürzen.
Vielleicht sagte sie meinen Namen. Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich nur daran: Wir kamen ohne Eröffnung, ohne Worte zur Sache, ich warf mich in befreiender Ekstase auf sie, und sie blieb mir nichts schuldig, sie wehrte sich, sie schlug nach mir, wütend, getrieben vom Stachel ihrer Schuld und ihrer Lust, und die ganze Zeit dachte ich daran, daß sie nicht gebadet hatte, daß sie Corcoran nicht ausgespült hatte und daß er hier dabei war, grinsend wie ein Schauspieler.
Ja, und ich fand es eigenartig, nach Indianapolis zurückzukehren, um diesmal mit Kindern aus einer Grundschule zu sprechen anstatt mit einer abgetakelten Nutte und ihrer endlosen Reihe gesichtsloser Kunden, im klaren, hellen Licht des Tages anstatt in nächtlichen Schatten. Prok hatte mit dem Schuldirektor und einer Vorschullehrerin, beide Freunde der Forschung, alles besprochen, und wir hatten das normale Prozedere verändert und dem kindlichen Auffassungsvermögen angepaßt. Außerdem hatten wir uns im voraus die Einwilligung – und die Geschichten – der jeweiligen Eltern geben lassen, und wir führten die Interviews zu zweit und in Anwesenheit mindestens eines Elternteils, damit nicht einmal der Anschein von Ungebührlichkeit entstehen konnte.
Wir trafen früh ein, die Kinder waren noch in den Klassenzim- mern, der borstige gemähte Sportplatzrasen leuchtete nur an den Rändern

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