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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Mann, dieses Energiebündel, hatte noch weit mehr zu bieten. Irgendwie kamen wir, noch bevor wir die Befragung formell begonnen hatten, auf Masturbation und Masturbationstechniken zu sprechen. »Sie müssen wissen, Dr. Kinsey«, sagte der kleine Mann, der es sich, eine Zigarette in der einen und einen Becher Kaffee in der anderen Hand, im Sessel am Fenster gemütlich gemacht hatte, »ich habe einen stärkeren Sextrieb als jeder andere. Ich bin die Nummer eins. Numero uno. So einen wie mich gibt’s nicht noch mal. Nirgends.«
»Tatsächlich?« erwiderte Prok freundlich, aber empirisch skeptisch.
»Ja. Sogar jetzt, in meinem Alter, hole ich – ist das der Ausdruck, den Sie bevorzugen: ›runterholen‹? –, hole ich mir ungefähr drei- oder viermal täglich einen runter. Und ich brauche nur zehn Sekunden bis zum Orgasmus, und jetzt sagen Sie mir, ob das nicht der Weltrekord ist.«
Corcoran saß, ein Bein über das andere geschlagen, auf dem Bett und hielt Bleistift und Protokollbogen bereit – sowohl er als auch ich würden die Antworten aufzeichnen. »Sehr beeindruckend«, sagte er beiläufig. »Aber sollten wir nicht langsam anfangen? Damit wir das alles schwarz auf weiß haben, meine ich.«
»Sie glauben mir nicht?«
»Natürlich glauben wir Ihnen«, sagte Prok.
»Sehen Sie her.« Und bevor irgend jemand Einwände erheben konnte, hatte Mr. X die Hose heruntergelassen. »Hat jemand einen Sekundenzeiger an seiner Uhr? Sie?« sagte er und wies auf mich. »Wie war noch mal Ihr Name?«
»Milk«, sagte ich. »John Milk.«
»Und? Haben Sie einen?« Sein Schamhaar war weiß, und der verschrumpelte Penis war darin eingebettet wie in ein Nest. Er war ein alter Mann, faltig und alt, und ich wollte den Blick abwenden, tat es aber nicht.
»Ja«, sagte ich. »Ja, sicher doch.«
»Na gut, dann sagen Sie ›Los‹«, und ich sah zu Prok, und Prok nickte, und ich sagte: »Los«, und dieses verschrumpelte Männlein brachte es tatsächlich: von schlaff zu hart zum Orgasmus in zehn Sekunden. Es war verblüffend. Einfach verblüffend. Keiner von uns hatte etwas Derartiges je gesehen. Es gab einen Augenblick der Spannung und der Erleichterung, und ich glaubte beinahe, Corcoran würde Beifall klatschen.
Ein paar Jahre später begannen wir unser berühmtes Projekt, bei dem wir etwa tausend Männer beim Masturbieren filmten, um festzustellen, ob die Mehrheit tröpfelte oder spritzte (73 Prozent tröpfelten, unter anderem auch ich), doch bis dahin hatten wir Masturbation weder beobachtet noch um eine Demonstration gebeten. Es dauerte einen Augenblick, bis wir uns gefaßt hatten. Inzwischen wischte Mr. X sich ab und zog seine Hose hoch. Trotz Proks tadelndem Blick zündete Corcoran sich eine Zigarette an, und dann machten wir uns daran, die Geschichte zu protokollieren – alle drei, gleichzeitig, und wir nahmen uns kaum die Zeit, zur Toilette zu gehen oder etwas zu essen oder zu trinken.
Mr. X hatte, wie sich erwies, ein enormes Gedächtnis. Er saß bequem zurückgelehnt im Sessel, rauchte eine Zigarette nach der anderen und ließ für uns seine Kindheit Wiederaufleben, seinen Vater, seine Großmutter, die Geschwister, die Cousinen und Cousins, die Onkel und Tanten, und dann ging es weiter in die Adoleszenz und das Erwachsenenalter, mit Jungen und Mädchen, Männern und Frauen, mit Hunden und Schafen und einmal sogar mit einem Papagei, und wir brauchten zweieinhalb Tage, um alles aufzuzeichnen. Ich lauschte dieser Stimme, dem leisen, rasselnden, keuchenden Atem, ich lauschte der Aufzählung, Akt um Akt, Partner um Partner, und mußte an Iris denken, an das, was sie gesagt hatte, doch ich behielt mein professionelles Gesicht bei, beugte mich über den Protokollbogen und tat, wofür ich quer durch das halbe Land gefahren war. Alles in allem waren wir knapp fünf Wochen unterwegs. Prok genoß es offenbar sehr und schwelgte in der Schönheit der Jahreszeit und der Freiheit der Straße wie schon lange nicht mehr. Diese Reise erinnerte ihn an die Gallwespen-Exkursionen, die er zehn Jahre zuvor gemacht hatte – weg vom Schreibtisch und hinaus in die Feldforschung, wie er sagte –, und er fand immer neue Gründe, die Reise zu verlängern. Er stellte fest, in welchen Städten entlang der Route es Colleges gab, und dann fuhren wir unangemeldet hin und parkten vor dem Verwaltungsgebäude. Corcoran und ich blieben im Wagen sitzen und rauchten verstohlen Zigaretten, während Prok den Dekan oder den Direktor umgarnte. Gewöhnlich wurden wir dann

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