Dr. Sex
und dann über einem Glas ausgedrückt habe). Bis wir es mit Rum probierten. Er schenkte sich einen Schluck ein, roch daran, ließ ihn über die Zunge gleiten und schluckte. Wieder verzog er das Gesicht, und ich hatte den Eindruck, das Experiment sei gescheitert. Doch dann beugte Prok sich vor, gab noch einen winzigen Schluck in sein Glas und trank. Er biß die Zähne zusammen und schmatzte ein-, zweimal. Seine Augen hinter den blitzenden Brillengläsern waren gerötet. »Rum«, sagte er schließlich. »Das wird gehen. Wie heißt es noch mal in dem Lied? ›Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste, joo-hoo, und ‘ne Buddel voll Rum.‹«
Iris’ Geschichte hatten wir noch nicht. Dennoch wußte ich ziemlich genau, was darin stehen würde: Sie war verklemmt gewesen, gehemmt durch Erziehung und Religion; sie hatte schuldbewußt masturbiert und dabei an einen Jungen in ihrer Klasse oder an einen Filmschauspieler gedacht; sie hatte viele Freunde gehabt, aber keine ernsthafte Beziehung, und bis vor kurzem hatte sie nicht mehr zugelassen als Zungenküsse und vielleicht ein paar ungeschickte Manipulationen ihrer Brüste; sie hatte nur einen Sexualpartner gehabt und ihre Jungfräulichkeit mit neunzehn auf dem Rücksitz eines Nash verloren. Und mehr noch: Sie liebte diesen Partner und hatte vor, ihn zu heiraten. Jedenfalls bis vor einer Woche noch.
Obwohl er sich bemühte, es nicht zu zeigen, war Prok verärgert, daß Iris ihre Sexualgeschichte noch nicht beigesteuert hatte. Was für einen Eindruck mußte man von dem Projekt haben, wenn die zukünftige Frau seines einzigen Kollegen es bisher abgelehnt hatte, sich befragen zu lassen? Einen schlechten – und das war noch milde ausgedrückt. Daraus sprach Unvernunft, ja Heuchelei. Schlimmer noch: Es würde alle Bemühungen untergraben, unsere Offenheit im Hinblick auf Sex und unsere gleichzeitige absolute Verschwiegenheit zu dokumentieren. Was dachte Iris sich eigentlich? Würde sie das Projekt beeinträchtigen? Und wenn ja, würde mich das meinen Job kosten?
Der Druck war indirekt. Erst kam jene beiläufige Nachfrage an dem Nachmittag, als Prok mir zur Verlobung gratulierte, und dann, als die Tage und Wochen vergingen, machte er immer wieder ganz nebenbei eine Bemerkung über Iris’ sexuelle Anpassung oder über irgendeine Studentin aus seinem Biologie-Seminar, deren Geschichte er aufgezeichnet habe und die ihn zufällig an Iris erinnert habe – »dieselbe Statur, dieselben lebhaften Augen, ein richtig süßes Mädchen«. Sobald er jedoch – vermutlich von Mac – erfahren hatte, daß die Verlobung aufgelöst war, nahm er sich ein bißchen zurück und erwog seine Optionen. Er wollte zweifellos, daß ich heiratete, und selbstverständlich wollte er Iris’ Geschichte, aber da ich mich noch nicht dazu durchgerungen hatte, ihn ins Vertrauen zu ziehen, konnte er mir weder unerbetene Ratschläge geben noch direkten Druck ausüben, wie er es sonst so gern tat. Die ganze Woche, in der ich das Gewicht des Rings in meiner Tasche spürte, als trüge ich einen Amboß mit mir herum, sagte er kein Wort, obgleich ich ihm anmerkte, daß er sich kaum beherrschen konnte, einzugreifen, mich zu beraten, zu belehren, zu ermuntern und alles wieder ins Lot zu bringen.
Wie sich herausstellte, war es aber Mac, die den Schlüssel in der Hand hielt. Am Tag nach unserem Gespräch lud sie Iris zum Tee ein. Ich weiß nicht (oder wußte jedenfalls damals nicht), wieviel Mac ihr erzählte oder in welche Worte sie es kleidete, aber Iris schien besänftigt. Mac rief mich in der Studentenpension an – Rufe, trampelnde Schritte auf der Treppe, Telefon für dich, Milk! – und sagte mit ihrer sanften, sämigen Stimme, ich solle so bald wie möglich zu Iris gehen. Es war kurz nach sieben Uhr abends. Ich hatte allein in einem Schnellimbiß gegessen, wo ich, als ich von meinem Hamburger aufblickte, Elster gesehen hatte, meinen alten Widersacher aus der Bibliothek des Instituts für Biologie, der mich voller Verachtung und unverhohlener Eifersucht gemustert hatte. Danach hatte ich mich mit einer Flasche Bourbon auf dem Bett ausgestreckt und der traurigen, erschöpften, zu Herzen gehenden Stimme von Billie Holiday gelauscht, die sich ihrem Kummer hingab. War ich betrunken? Vermutlich. Ich dankte Mac überschwenglich, kämpfte vor dem Spiegel mein Haar nieder und stürzte zur Tür hinaus.
Der Campus. Das Studentinnenwohnheim. Das Quaken der Frösche am Bach. Die Rezeptionistin und ihr herzliches Lächeln.
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