Drachen-Mädchen
»Zum Abendessen.« Sie blickte sich um.
Stanley seufzte heimlich. Schließlich war Ivy selbst der appetitlichste Happen, den man sich nur denken konnte, doch schon der bloße Gedanke daran ließ ihn zusammenzucken. Aber solange er dabei war und Wache hielt, würde niemand sie jemals vertilgen!
In der Nähe stand ein Krebsapfelbaum, an dem eine ganze Anzahl reifer Krebse hingen. »He, die schmecken bestimmt lecker«, sagte sie und griff nach einem davon. Doch der Krebs schnappte mit seinen riesigen Scheren nach ihr, und sie zog hastig die Hand zurück.
Trotzdem sahen die Krebse fürchterlich lecker aus. »Ich weiß was!« Sie war immer sehr stolz auf sich, wenn ihr etwas einfiel. »Mami kocht die Krebse immer in heißem Wasser. Dann schnappen sie nicht nach einem. Und Pfefferschoten tut sie auch hinein.«
Aber sie hatte kein heißes Wasser, ja nicht einmal kaltes, und schon gar keine Pfefferschoten, um es zu erhitzten. Ivy dachte nach und hatte schon bald die Lösung gefunden. »Stanley, wir können sie mit deinem heißen Dampf kochen. Dann können wir beide sie essen.«
Stanley blickte den Krebsapfelbaum an und verstand nicht, worum es ging. Er brauchte Krebse nicht erst zu dampfen, er konnte sie mühelos roh verschlingen.
»Ach, komm schon«, ermunterte Ivy ihn. »Ich weiß doch, daß du klug genug bist!« Der Drache mußte feststellen, daß er tatsächlich klüger war, als er geglaubt hatte. Nun verstand er, warum sie das wollte: Denn sie konnte Krebse eben nicht roh und ungekocht vertilgen.
Stanley stellte sich vor dem Baum auf und ließ einen Strahl zischenden Dampfes hervorschießen. Er erwischte einen Krebs, dessen grünliche Schale sofort zu einem hellen Apfelrot reifte, bis das Wesen schließlich vom Baum fiel. Ivy nahm den Krebs auf – und ließ ihn wieder fallen, denn er war sehr heiß. Dann nahm sie ihn erneut mit einem Zipfel ihres efeugrünen Kleids auf. Er roch köstlich.
Doch sie wußte nicht, wie sie die Schale aufbrechen sollte, weil sie keinen Nußknacker dabei hatte. Da erblickte sie Stanleys glitzernde Zähne und hatte erneut eine Idee. »Du kannst sie aufbrechen!« rief sie.
Sie steckte dem Drachen den gekochten Krebs in den Rachenwinkel, dort, wo die Kauzähne waren. Stanley biß langsam zu, bis die Schale zerbrach. Dann öffnete er wieder das Maul, und sie nahm den Krebs heraus. Dieses Problem war gelöst.
Sie zupfte das Fleisch aus der Schale und kaute munter. »Ja, schmeckt wirklich sehr gut«, meinte sie. »Koch dir doch auch welche, Stanley.«
Achselzuckend dampfte Stanley mehrere Krebse ein und schlang sie hinunter, samt Schalen. Er stellte fest, daß sie so auch ganz gut schmeckten. Er hatte seinen Horizont erweitert: nun wußte er, wie man gekochtes und rohes Fleisch ißt. Bald darauf waren Drache und Mädchen satt.
Doch nun drängte die Nacht immer störrischer. »Mami hat mich wohl noch nicht gefunden, und Papi hat was wichtigeres zu tun«, meinte Ivy sorglos. Sie wußte, daß Königin Irene auftauchen würde, wann es ihr paßte. Allerdings vergaß die Frau nur selten die Zubettgehzeiten. »Wir müssen uns eine schöne Schlafstelle suchen.«
Der Drache schlief natürlich normalerweise immer dort, wo er dazu Lust hatte, denn kein anderes Wesen wagte es, ihn anzugreifen. Aber jetzt war er viel kleiner und unerfahrener als früher, und die drohende Finsternis schüchterte auch ihn ein. Wie konnte er dem Ungeheuer-unter-dem-Bett entkommen, wenn er gar kein Bett hatte, auf das er sich legen konnte? Wenn Ivy also meinte, daß es notwendig sei, eine geeignete Schlafstelle zu finden, mußte das wohl stimmen.
So wanderten sie weiter auf der Suche nach einem passenden Ort. Endlich fanden sie einen riesigen Baum, den zu umrunden Ivy eine Menge Zeit gekostet hätte, so dick war sein Stamm und so hoch ragten seine Wurzeln aus dem Boden. Sein Blattwerk war sehr dicht, eine undurchdringliche Masse, die sich am Boden fast waagerecht ausdehnte. »Da oben sind wir in Sicherheit«, meinte Ivy. »Aber wie kommen wir dort hinauf?«
Sie hatten Glück, denn hinter dem Baum gab es einen Kranich. Der Vogel besaß lange, dünne Beine und einen langen, dünnen Hals sowie einen langen, dünnen Schnabel.
Es war ein großer Vogel, dessen Kopf, wenn er ihn hob, im Blattwerk des Baums verschwand. Er war damit beschäftigt, Steine vom Boden hinauf ins Blattwerk zu hieven, wobei er seinen Kopf mit langsamen, sorgfältigen Bewegungen hob und senkte.
Ivy vergeudete keine Zeit und fragte sofort: »Herr
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