Drachen-Mädchen
Wirkung war merkwürdig: Die Klänge lösten unterschwellige Gefühle der Freude, der Sorge und der Schuld aus. Erstaunlich, was reiner Klang alles vermochte!
»Ich frage mich, ob sie wohl auch romantische Musik spielen kann«, murmelte Gloria.
»Warum?« fragte Ivy.
»Ach, ist egal, Liebes. War nur so ein Gedanke.« Aber die Art, wie sie das sagte, ließ Ivy den Eindruck gewinnen, daß es doch nicht nur so ein Gedanke war.
Stanley blickte schnüffelnd umher und suchte nach etwas, das er nicht genau festmachen konnte. »Kümmer dich gefälligst um deine Aufgabe!« sagte Ivy tadelnd zu dem Drachen.
Endlich erblickten sie die Mundorgel. Es war ein Gebilde von der Größe eines Baums, das aus zahllosen Mündern bestand: riesige, geräumige, gezähnte, häßliche, ogerhafte Münder bliesen die riesigen dunklen Noten hervor, während kleinere, tierhafte Münder die mittelgroßen Mittelnoten ausstießen und winzige, geschürzte, damenhafte Münder die kleinen und höchsten Töne hervorschrillten.
Da erschien eine Gestalt am Himmel. Es war eine Harpyie. Sie rief einen Befehl – und schon verstummte die Mundorgel, so abrupt, daß es einen geradezu betäubte. Ivy wäre beinahe umgestürzt. Sie hatte sich gegen die Klangwogen gestemmt, und plötzlich war der Widerstand gewichen.
Die Harpyie schoß auf sie zu. Es war ein männliches Exemplar mit prächtigen Schwingen und dem attraktivsten Gesicht, das Ivy je gesehen hatte.
»Gloria!« rief der Harpyienhahn.
»Hardy!« rief das Koboldmädchen erfreut.
Er stieß zu ihr herab, schlug seine Flügel um sie wie einen Mantel und küßte sie.
Nach einer Weile lösten sich die beiden Verliebten voneinander, und der Harpyienhahn schwebte mit mühelosen Flügelschlägen in der Luft. »Wer ist denn das?«
»Das sind meine Freunde, die mir geholfen haben, dich zu finden«, erklärte Gloria. »Ivy und Hugo und Stanley.«
Hardy Harpyie blinzelte sie an. »Die sehen aber ziemlich jung aus.«
»Sind wir auch«, entgegnete Hugo. »Das ist das schönste Alter.«
»Der Drache kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Das ist der kleine Spaltendrache«, erklärte Gloria sofort. »Aber jetzt ist er freundlich geworden. Er hat die Mundorgelklänge geortet, damit ich dich wieder finden konnte.«
»Dann ist wohl alles in Ordnung«, meinte Hardy. »Aber warum bist du hier, Gloria? Wenn ich gewußt hätte, daß du kommst, wäre ich dir entgegengeflogen, um dich abzuholen.«
»Ich habe gesehen, daß die Spalte plötzlich leer war, da bin ich auf die andere Seite geeilt«, erklärte Gloria. »Ich hatte schreckliche Angst. Ich wußte ja nicht, daß der Drache klein und jung geworden ist. Das war die einzige Gelegenheit, um vor meinem Vater davonzulaufen, bevor er mich mit irgendeinem widerlichen und brutalen Koboldhäuptling mit Knubbelknien verheiratet.«
»Aber das war ein viel zu großes Risiko, hierherzukommen!« protestierte Hardy. »Wenn dir irgend etwas zugestoßen wäre…«
»Ich mußte einfach kommen«, erwiderte Gloria. »Es war meine einzige Chance, das Glück zu finden.«
»Ja, das stimmt«, meinte Hardy. »Komm mit zu meinem Nest, es ist nicht weit von hier. Und bring deine Freunde mit. Ich werde sie mit ein paar hübschen Schmuckstücken belohnen, die ich aus einem Drachennest habe. Und später stelle ich die Mundorgel so ein, daß sie etwas Romantisches spielt…«
»Ja«, hauchte Gloria.
Nun verstand Ivy, was damit gemeint war. Küssen mußte mit Musik noch viel mehr Spaß machen!
Hardy flog voran, und sie folgten ihm. Seine Schwingen gaben einen angenehm männlichen Geruch von sich, ganz anders als der übliche Gestank der Harpyiehennen.
Plötzlich sauste ein Netz durch die Luft und umhüllte sie alle. Bevor sie sich versehen hatten, fanden die fünf sich zu einem strampelnden Knäuel zusammengebunden. Stanleys grüner Schwanz stak in Ivys Gesicht, während sie auf einem von Hardys Flügeln stand und Gloria auf Hugos Kopf saß. Scheußliche kleine Männer kamen mit gezückten Keulen von allen Seiten herbeigerannt. »Jetzt haben wir euch!« rief einer der Männer.
»Vater!« schrie Gloria entsetzt.
Stanley ließ etwas Dampf ab, aber das ließ nur Hardy auffahren. Da die Schnauze des Drachen nach innen gerichtet war, konnte er die Angreifer nicht attackieren.
Nun erkannte Ivy die Wesen. Es waren männliche Kobolde, jeder so dunkel, daß er schon fast schwarz wirkte, mit riesigen Köpfen, großen Plattfüßen, gedrungenen, knorpeligen Körpern und furchteinflößenden
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