Drachen-Mädchen
Mörder ja.«
Kotbold hielt erneut inne. Er war gerissen genug, um zu erkennen, daß er den Vorwurf des Mordes schlecht dadurch widerlegen konnte, daß er seinen Ankläger umbrachte. Hugo hatte ihn verbal ausmanövriert. »Also gut, du Rotzlümmel! Dann werden wir eben einen Anschläger, einen Verweiliger und Leugen bestimmen.« Er blickte sich wütend um, doch es waren keine Kobolde mehr frei; alle zwölf gehörten zur mordlustigen Jury. »Aber ich hab’ keine Leute mehr übrig!«
»Das ist Pech«, meinte Hugo. »Dann könnt ihr auch keinen richtigen Prozeß abhalten, und alle werden wissen, was du bist: ein feiger Mörder, der unschuldige Leute totmacht.«
»Der Prozeß findet statt!« beharrte Kotbold und plusterte sich auf, bis er kurz vorm Platzen stand. »Du Klugscheißer – du bist der Verweiliger. Und – und meine Tochter ist der Anschläger! Dann wird der Mor… äh, der Prozeß ganz legal.«
»Ich werde nicht…« fing Gloria an, doch Hugo unterbrach sie hastig.
»Ja, sie wird es tun«, sagte er. »Das ist nur fair.«
»Was?« kreischte Gloria.
»Er hat irgend etwas vor«, flüsterte Ivy ihr ins Ohr. »Er ist sehr schlau. Du solltest es lieber tun.«
Entsetzt verstummte das Mädchen.
»Schön, dann ist ja jetzt alles in Butter«, sagte Kotbold und schnitt eine selbstzufriedene Grimasse. »Anschläger – schlag los, aber so, daß nichts mehr übrigbleibt!«
Zögernd stellte sich Gloria vor Hardys Pfahl auf. Ivy sah, wie sie nach ihrem Messer griff, aber nichts unternahm. Sie wußte, daß jeder Versuch, Hardy zu befreien, die Meute nur in Rage bringen würde. »Ich will – will dieser dummen Jury beweisen, daß der Angeklagte das attraktivste, prächtigste und netteste männliche Wesen ist, das es gibt, besser als jeder häßliche alte Kobold mit Knubbelknien…«
»Nicht stattgegeben«, bestimmte Richter Kotbold. »Du sollst vielmehr beweisen, daß diese gefiederte Mißgeburt hier schuldig ist, eine prächtige Kobolddamsell verführt und mißbraucht zu haben, und auf der Stelle auf möglichst grausame Weise den Tod finden muß.«
Stanley kaute ruhig an seinem Netz. Er hatte bereits einige Fäden durchgebissen und arbeitete gerade an weiteren. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er sich befreit hatte – sofern man ihm genug Zeit ließ und er unbemerkt blieb. Gloria bemerkte es, und ihre Augen leuchteten auf. Ein freigelassener Drache konnte jeden Prozeß so lange aufhalten, bis man eine Fessel durchtrennt hatte.
Sie schritt beiseite, um die Aufmerksamkeit der Kobolde von dem Drachen abzulenken. »Ja, all dies werde ich beweisen, und noch mehr«, sagte sie mit frischem Mut. »Und zwar ausgiebig. Als erste Zeugin rufe ich das Menschenkind Ivy in den Stand. Man soll ihr die Fesseln abnehmen, damit sie aussagen kann.«
»Oh, nein, kommt gar nicht in Frage!« schrie Kobold. »Keine gerissenen Koboldtricks! Sie kann auch gefesselt aussagen!«
Ivy trat vor. Man hatte sie nur an den Händen gefesselt. Kotbold blickte sie finster an. »Du kleine Rotzgöre, schwörst du, die Wahrheit auszuplaudern, den größten Teil der Wahrheit und kaum etwas anderes als die Wahrheit – weil sonst?«
»Klar«, sagte Ivy, die sich für dieses Verfahren zu interessieren begann. Sie hatte noch nie an einem Prozeß teilgenommen. Stanley hatte gerade ein weiteres Stück Netz durchkaut.
»Mach’ ich meistens.«
Nun ergriff Gloria wieder das Wort. »Hast du gesehen, wie diese gefiederte Mistgeburt irgendwelche unschuldige Koboldmädchen verdorben hat?« Hardy zuckte zusammen, krächzte aber nicht. Er hatte erkannt, was hier gespielt wurde.
»Nein«, sagte Ivy entschieden.
»Was?« fragte Kotbold, vor Wut kochend.
»Er hat sie bloß geküßt«, erklärte Ivy. »Das macht mein Vater ständig mit meiner Mutter, außer sie glauben, ich gucke zu.«
Die Jury murrte unwirsch. »Verderbt!« knurrte ein Koboldgeschworener.
Gloria lächelte undurchdringlich. Sie richtete ihre Kleidung aus und wandte sich erneut der Jury zu. »Ich rufe nun den Angeklagten als Zeugen auf.«
»Dieser Lügenbold kann doch unmöglich vereidigt werden!« protestierte Kotbold.
Gloria lächelte halb. »Stimmt das, Angeklagter? Seid Ihr unfähig zu schwören?«
Hardy ließ eine Tirade von Schimpfworten los, daß Glorias Ohren hellrot anliefen und sich ihr Mund einwölbte, als hätte sie ihre Zähne verschluckt. Doch sie drehte sich zu ihrem Vater um, und nach einigen Anläufen gelang es ihr, weiterzusprechen. »Ich kann natürlich kein
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