Drachenauge
damit er während der Generalprobe des Konzerts nicht vor Müdigkeit umkippte. Falls Sheledon während seiner Abwesenheit noch irgendwelche Ände—357
358
rungen in letzter Minute eingeführt hatte, würde er ihn nach allen Regeln der Kunst abkanzeln. Mit den vielen Neuerungen kam keiner mehr zurecht. Aber Clisser wusste, dass Sheledon mit seiner Landungssuite ein absolutes Meisterwerk geschaffen hatte.
»Sitzen Sie auf, Meister Clisser«, riss eine angenehme Stimme ihn aus seinen Gedanken. »Dass Sie mir ja nicht in den Abgrund fallen!«
Mit einem Ruck kehrte Clisser in die Wirklichkeit
zurück. »Ja, ja, entschuldigen Sie, ich war ein wenig zer-streut.« Er lächelte zu dem braunen Reiter empor, der ihm eine Hand entgegenstreckte.
»Danke«, sagte Clisser zu dem Drachen, der freund—
licherweise eine Vordertatze anwinkelte, um ihm das Aufsitzen zu erleichtern.
Und dann saß er rittlings auf dem großen Tier und
klammerte sich an den Sicherheitsgurt.
»Ich bin soweit.«
Clisser hielt den Atem an, als sich der Drache in die Finsternis des Kraterkessels hinabstürzte. Dann schien sich sein Magen umzustülpen, weil der Drache die gewaltigen Schwingen entfaltete und der freie Fall ge-bremst wurde. In Schwindel erregendem Tempo ge-wannen sie an Höhe.
Sie flogen in Richtung Osten, und die Glut des Roten Sterns verblasste im Licht der aufgehenden Sonne Rubkat. Der rote Fleck, der vorher noch wie ein böses Feuer gefunkelt hatte, verlor sich nun im Glanz des heller werdenden Himmels.
Erstaunlich! dachte Clisser. Darüber möchte ich ein Gedicht schreiben. Doch er wusste, dass er seine Empfindungen nie zu Papier bringen würde. Vielleicht blieb der Perneser Literatur ein weiterer stümperhafter Versuch erspart, sinnierte er ironisch.
Er merkte, dass auch der braune Reiter sich an dem
herrlichen Schauspiel nicht satt sehen konnte. Diesen Ritt würde Clisser ganz gewiss in Erinnerung behalten.
359
Der Drache schlug einen nördlichen Kurs ein, indem er gemächlich eine Linkskurve drehte.
Bald würden die Drachen in wichtigerer Mission unterwegs sein, ging es Clisser durch den Kopf. Wenn es galt, Pern vor dem Fädenfall zu schützen. Vor ihnen erstreckte sich die schneebedeckte Bergkette des Großen Nordgebirges. Rubkats Widerschein tönte die eisgepanzerten Felswände in zarteste Abstufungen von Orange.
Was Iantine mit einem solchen Panorama anfangen
könnte! Schlagartig wurde das Bild erhabener Schönheit von der abgrundtiefen Schwärze des Dazwischen verschluckt.
»Was passiert, wenn Sie sich die Finger wund zeichnen?«, wollte Leopol von Iantine wissen.
Der Künstler hatte nicht einmal bemerkt, dass der
Junge neben ihm stand, aber seine Frage – tatsächlich malte er gerade eine Szene mit den Jungdrachen in einem solchen Tempo, dass sein Ellbogen schmerzte –reizte ihn zum Lachen. Dennoch dachte Iantine nicht daran, eine Pause einzulegen.
»Ich weiß es nicht. Ich habe noch nie gehört, dass so etwas passiert ist, falls dich das beruhigt.«
»Wieso sollte ich mir Sorgen machen?« Keck legte
Leopol den Kopf schräg. »Es sind doch Ihre Finger.«
»Weißt du was, ich werde dich sehr vermissen«, erklärte Iantine impulsiv.
»Das will ich doch sehr hoffen. Immerhin war ich
während der letzten Monate Ihr ständiger Begleiter«, lautete Leopols Antwort. »Aber Sie können mich doch mitnehmen. Ich werde mich weiterhin um Sie kümmern.« Leopols Miene war ernst, und seine grauen Augen blickten ein wenig bekümmert. »Mittlerweile weiß ich, wie Sie Ihre Farben mischen, die Pinsel säubern und das Holz oder die Leinwand für ein Porträt präparieren.«
Iantine schmunzelte und zauste das dichte schwarze
360
Haar des Jungen. »Und was würde dein Vater dazu
sagen?«
»Mein Vater? Er hat alle Hände voll zu tun, um die
Schutzmaßnahmen gegen den Fädenfall vorzubereiten.« Von Tisha wusste Iantine, dass ein Bronzereiter, C'lim, Leopols Vater war; seine Mutter war kurz nach der Geburt gestorben. Doch wie jedes andere Kind im Weyr wurde er von vielen Leuten umsorgt und verhätschelt und auch gemaßregelt, falls es erforderlich war.
»Ich sehe ihn ja kaum noch.«
Kein Wunder, dachte Iantine. Seit seiner Ankunft
im Weyr hatte sich Leopol an ihn gehängt und verfolgte ihn auf Schritt und Tritt wie ein Schatten. »Und Tisha?«
»Ach, Tisha. Die muss sich halt jemand anderen
suchen, den sie bemuttern kann.«
»Ich kann ja fragen, aber ich glaube nicht, dass man dir erlauben
Weitere Kostenlose Bücher