Drachenauge
Kaverne zu
stehlen. Sie kam nicht umhin, sich linkisch und undankbar zu fühlen, wo doch alle, selbst der Burgherr und seine Burgherrin, sich so rührend um sie gekümmert hatten.
Anfangs hatte sie befürchtet, sie würden von ihr eine Erklärung für ihr ungewöhnliches Verhalten verlangen, stattdessen hatte man ihr ohne viel Umstände Beistand gewährt. Fast war es so, als habe sie seit dem zwingen-den Blick in Moraths Augen erst richtig angefangen zu leben.
Während sie die Höhlenwand entlang pirschte, die
Lider gesenkt, damit niemand mit ihr Blickkontakt aufnehmen konnte, gelangte sie zu dem Schluss, dass der heutige Tag wirklich den Beginn eines völlig neuen Lebens markierte. Überall, wohin sie schaute, sah sie nur lächelnde Gesichter und tadellose Manieren. Bis jetzt hatte sie noch nichts von dem liederlichen und sitten-108
losen Betragen bemerkt, dem die Weyrleute nach der
festen Überzeugung ihres Vaters frönten.
Aber er hatte ihr so vieles erzählt. Dafür andere Dinge unterschlagen. Wie die Tatsache, dass vom Weyr ein offizielles Schreiben eingegangen war, in dem man sie aufforderte, sich an einem bestimmten Tag zur Gegen-
überstellungszeremonie bei den Drachenreitern einzufinden. Durch Zufall hatte sie den Wisch entdeckt, in dem Schrank, in dem man allerhand Zeug aufbewahrte, das sich vielleicht noch einmal verwenden ließ.
Niemand in Burg Balan, und ganz besonders nicht ihr Vater und ihre Stiefmutter, Gisa, hätten ein Blatt Papier weggeworfen, das auf einer Seite unbeschrieben war.
Wie sie diese Pfennigfuchserei hasste! Nur nichts verschwenden, nur nichts ausgeben, jeden Krempel horten! Dieses Motto dominierte jeden Aspekt des Lebens in der Burg. Nicht, dass man arm gewesen wäre; an ma-teriellem Wohlstand herrschte kein Mangel, doch seit dem Tod ihrer leiblichen Mutter waren ideelle Werte total verkümmert.
Sie hatte nach etwas ganz anderem gesucht, als sie
den ausdrücklich an sie gerichteten Brief entdeckte.
Wann er abgegeben wurde, konnte sie nicht entdecken, da ein Datum fehlte, doch das Papier war so eselsohrig, dass der Bote womöglich bereits vor Wochen da gewesen war.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Debera damit ab—
gefunden, mit Ganmar ein Bündnis einzugehen. Es erschien ihr immer noch besser, als ständig bei ihrem Vater zu wohnen. Sie wusste, dass sie in ihrem neuen Heim genauso schwer würde schuften müssen, wenn
nicht gar noch schwerer, da die zu gründende Wohnanlage erst aus dem Felsen der Erzmine herausgehauen werden musste. Doch später wäre dies ihr eigenes Zu-hause – und das von Ganmar –, das sie sich nach eigenen Wünschen gestalten konnte. Nicht, dass sie auch nur einen Moment lang ernsthaft daran glaubte, Ganmar 109
oder Boris würden die blumigen Versprechen, mit denen sie sie lockten, in die Tat umsetzen. Alles, was die beiden Männer wollten, war eine kräftige junge Frau, die von Kind an ans Malochen gewöhnt war.
Allerdings hatte sie tags zuvor scharenweise Drachen am Himmel gesehen, von denen die meisten Passagiere beförderten. Burg Balan war nicht weit vom Telgar-Weyr entfernt, selbst wenn man über Land reiste. Deshalb fasste sie ihren Plan, sowie sie das Schreiben gelesen hatte, ohne auch nur eine Sekunde lang zu zögern.
Man hatte sie gesucht! Ihr stand das Recht zu, bei der Gegenüberstellung anwesend zu sein. Egal, wie sich das Leben im Weyr abspielte, schlimmer als ihre derzeitige Existenz konnte es kaum sein. Und wenn sie gar zur Drachenreiterin avancierte …
Sie hatte den Zettel in eine Tasche gestopft und die Schublade zugeknallt. Zum Glück war sie allein in der Küche, und die Sonne strömte durch die Fensterschlit-ze, wie um Licht und Klarheit in ihre Gedanken zu bringen. Sie ging nicht einmal mehr in das Zimmer zurück, das sie mit drei ihrer Halbschwestern teilte. Stattdessen schnappte sie sich ihre Jacke und hetzte zur Koppel, auf der die Reitpferde weideten. Im Hof hielt sich niemand auf, alle waren bei der Arbeit. Beim Frühstück waren die verschiedenen Aufgaben verteilt worden, und ehe sich ihr Vater nicht davon überzeugt hatte, dass sämtliche Pflichten erfüllt waren, gab es kein Mittagessen.
Sie wagte es nicht einmal, sich Sattel und Zügel aus der Scheune zu holen, weil ihre ältesten Brüder dort dabei waren, das Heu neu aufzuschichten – beim ersten Mal hatten sie schludrige Arbeit geleistet. Lediglich einen Strick nahm sie mit. Da sie sich im Umgang mit Pferden bestens auskannte, würde es ihr keine
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