Drachenboot
dir jemand vorgekaut hat, denn die Zähne würde ich dir auch ausschlagen.«
Finn, der merkte, dass er sich zu weit ins offene Wasser gewagt hatte, um wieder zurückzurudern, ließ Thorgunnas Wutausbruch beschämt über sich ergehen und sagte nichts, er kratzte nur die Frostbeulen an seinen Händen, bis sie bluteten. Alle anderen saßen da und kauten auf Pferdeknorpeln herum und versuchten, nicht zu viel über Jon nachzudenken. Über seine Liebesgedichte, seine
Freundschaft mit Lambi und darüber, dass jedermann wusste, dass es bei den Griechen die Knabenliebe gab und dass die Slawen im Ruf standen, wollüstig zu sein.
Thordis nahm Finn die leere Schale von den Knien und gab ihm eine von ihren Nadeln. »Hier«, sagte sie, »damit du weiterstochern kannst. Dann wirst du nicht nur besser aus dem Mund riechen, sondern du wirst hoffentlich auch mal eine Weile schweigen.«
»Eine Frau, ein Hund und eine alte Eiche«, murmelte Finn und nahm die Nadel, und jeder vollendete in Gedanken die Redensart für ihn – je mehr du sie schlägst, desto besser werden sie. Doch niemand sagte es laut – nicht einmal Njals Großmutter.
Thorgunna schnaubte, klapperte mit dem Geschirr und schaufelte Schnee zum Schmelzen in den Kessel. »Kleiner Olaf, wenn du noch eine Geschichte weißt, jetzt wäre eine gute Gelegenheit, sie auszuspucken.«
Das war eine gute Idee, denn wir alle hatten uns so an den Jungen gewöhnt, dass er fast übersehen wurde – doch jetzt blickten alle erwartungsvoll auf ihn, der gleichzeitig der Freund eines Prinzen und eines Ziegenjungen war, und er lachte über Finns mürrisches Gesicht, auch wenn sein Lachen nicht bis zu seinen Augen reichte.
»Es war einmal ein Adler«, fing er an, und ich hob warnend die Hand, denn seine Geschichten waren wie ein Hund, der die Hand beißt, die ihn füttert, und wir hatten schon genug Unfrieden gehabt. Als ich ihm das sagte, zuckte er die Schultern.
»Ich will es hören«, sagte jemand, und wir alle sahen Kvasir an, der sich ein Tuch über beide Augen gelegt hatte, weil der Feuerschein seinem guten Auge wehtat. Ich wusste, er wollte es Thorgunna zuliebe hören, und ich verwünschte ihn stumm.
»Es war einmal ein Adler«, fing Krähenbein wieder an, als ich nickend zugestimmt hatte. »Er stand in der ganzen Kraft seiner Jugend. Das war vor langer Zeit – fragt nicht, wann – und an einem Ort weit von hier – fragt nicht, wo – zu einer Zeit, als die Lindwürmer noch auf der Erde krochen und sich noch nicht in verwunschenen Höhlen auf ihren Goldschätzen zusammengerollt hatten.«
»Wenn es um Gold geht, dann klingt das nach einer guten Geschichte«, warf Finnlaith aufgeräumt ein, aber Ospak stieß ihn an, er solle still sein.
»Da war also so ein Lindwurm«, fuhr Krähenbein fort, »und der Adler und der Wurm waren Freunde, oder wenigstens glaubte der Wurm das, denn er war gern mit dem Adler zusammen und bewirtete ihn auch stets großzügig auf seinem gemütlichen Hof, sodass der Adler immer gern wiederkam.«
»Heya«, stimmte Hauk zu, »diese Großzügigkeit habe ich auch schon kennengelernt.« Und er erhob seinen Holzbecher gegen mich, als sei es ein Trinkhorn voll Met und als säßen wir alle in einem solch gemütlichen Hof.
Andere lachten leise und stimmten zu, also hatten sie die Anspielung auf meinen Namen schnell verstanden. Auch war es nicht schwer zu erraten, wer der Adler war, und ich spürte, wie Angst in mir hochstieg und mir den Magen verknotete. Dies würde mit Sicherheit die schlimmste Geschichte von allen werden.
»Jedes Mal, wenn der Adler fortflog«, fuhr Krähenbein mit seiner hohen Stimme fort, »lachte er, denn er konnte die Gastfreundschaft des Lindwurms auf der Erde genießen, doch der Wurm würde nie seinen hohen Adlerhorst erreichen können.«
»Also ist in dir auch nicht genug von einem Adler, Orm«, lachte der rote Njal.
»Die häufigen Besuche des Adlers, sein Stolz und seine Undankbarkeit wurden bald zum Gespräch unter den anderen Tieren, und sie hielten es für das Beste, den Wurm darüber aufzuklären«, fuhr Krähenbein fort, ohne sich von der Unterbrechung stören zu lassen. »Der Adler und der Frosch sprachen nie miteinander, denn der Adler pflegte oft herabzustoßen und sich einen Frosch zum Abendessen mitzunehmen, also suchte der Frosch den Wurm auf und sprach mit ihm. Der Wurm glaubte ihm nicht, deshalb sagte der Frosch: ›Das nächste Mal, wenn dich der Adler besucht, bitte ihn um einen Kessel mit einem Deckel,
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