Drachenboot
seinen nackten Rücken gezeigt. Ich war zurückgewichen; der Rücken war mit teils schwarzen, teils noch rohen Wunden bedeckt, halb verheilte Verbrennungen, die ihm mit einem kleinen Christenkreuz zugefügt worden waren und die zusammen ein einziges großes Kreuz bildeten, am Rückgrat entlang und quer über beide Schulterblätter. Jetzt wurde mir klar, wie Martin die Erinnerungen aus dem verwirrten Kopf des kleinen Eldgrim ans Tageslicht befördert hatte.
»Wenn mir dieser Mönch jemals wieder über den Weg laufen sollte«, hatte Thordis gesagt, »dann würde ich gern ein paar Worte mit ihm reden.«
Sie versuchte, noch mehr wollene Tücher um Eldgrims Kopf zu wickeln, und er brummte unwillig.
»Hör auf, an mir rumzufummeln, Frau«, knurrte er zitternd, »am Kopf ist mir warm genug.«
Er sah mich hilflos an.
»Ich habe Dorschbeißer irgendwo verloren«, sagte er mit ratlosem Gesicht. »Runen«, sagte er.
»Wir haben Dorschbeißer gefunden«, sagte ich, und er nickte lächelnd. Dann fragte er: »Wo sind Einar und die anderen … nein, warte … die sind tot. Orm … tut mir leid, ich …«
Er verstummte und runzelte die Stirn. »Lambisson. Dieser dreckige kleine Mönch … Er hat mich gequält, der Lump. Immer wieder hat er mich nach Runen gefragt und Silber …«
Wieder unterbrach er sich, und man hörte ein Schluchzen, das klang wie das Wimmern eines Kindes. Thordis schlug ihren Umhang um ihn, und ich empfand Schmerz und ohnmächtige Wut.
»Was machen wir jetzt?«, wollte Gisur wissen. »Gehen wir zum Grab zurück? Was ist mit dem Silber?«
Wir würden nie mehr zum Grab zurückgehen, und das Silber hatte man uns genommen, aber das sagte ich nicht, und auch nicht, woher ich es wusste. Mir war, als hätte ich etwas Wichtiges vergessen, das ich dort im Schnee zurückgelassen hatte – aber es war nur das Schwert. Es war ein Teil von mir gewesen, und ich vermisste es. Ich spürte den Verlust noch lange, es war, als habe man mir einen Arm oder ein Bein abgeschnitten, aber wenn ich das Lächeln in den Augen des kleinen Eldgrim sah, dann bereute ich den Tausch nicht.
»Kvasir und Thorgunna«, sagte ich. Gisur schüttelte sorgenvoll den Kopf.
»Sobald wir einen befreit haben, verlieren wir zwei andere«, sagte er, und sein grimmiges Gesicht erzählte den Rest; hier irgendwo waren unsere Gefährten, und sie waren auf unsere Hilfe angewiesen. Doch es gab Wagenladungen mit Silber, und das gehörte den Eingeschworenen.
Der Reiter kam näher, und plötzlich sagte Finn: »Morut.«
Der chasarische Fährtensucher kam auf seinem unverwüstlichen Pony angetrabt und führte ein zweites am Zügel, ein kleines, zähes Tier mit struppiger Mähne. Er blieb in einiger Entfernung stehen und wartete, bis wir ihn erreicht hatten.
»Heya, kleiner Mann«, brummte Finn, und Morut nickte zurück, unsicher, wie wir ihn empfangen würden. Da er ganz offen auf uns zugeritten war, wollte ich ihn anhören.
»Der Prinz ist in Sarkel«, berichtete er. »Na ja, nicht direkt in Sarkel. Der Prinz von Nowgorod darf sich nicht innerhalb der Festung aufhalten, deshalb wohnt er in der Stadt. Er ist unten am Fluss, wo er Schiffe beschafft und die Wagen entladen lässt.«
»Hältst du es für wahrscheinlich, dass die Festung Wladimir
noch aufnimmt?«, fragte ich. Morut schüttelte den Kopf und spitzte die aufgeplatzten Lippen, die er jetzt eingefettet hatte.
»Er hat Avraham hingeschickt, um sie zu überreden, aber ich glaube, er plant genau das Gegenteil – zwei Tagesmärsche von hier sind nämlich Männer aus Kiew unterwegs, die von Sveinald und seinem Sohn angeführt werden. Sie wären schon längst hier, aber zwischen ihnen und Sarkel ist der Fluss wieder zugefroren, also mussten sie ihre Schiffe verlassen und zu Fuß weitermarschieren.«
Das war eine wichtige Neuigkeit – aber ich fragte mich, woher Morut es wusste. Der kleine Fährtensucher zuckte die Schultern. »Tien war dabei. Sie hatten in ihren großen, schweren Schiffen nur zwei Pferde mitgebracht. Sie schickten Tien auf einem davon nach Sarkel, um Neuigkeiten in Erfahrung zu bringen, und wir trafen uns nicht weit hinter der Brücke am Wehrgraben.«
Tien. Ich verfluchte ihn, denn mir war klar, dass er, sobald wir im Weißen Nichts verschwunden waren, nach Kiew geeilt war und alles erzählt hatte.
»Ja«, bestätigte Morut, »aber in Kiew wusste man es bereits, denn dieser Mönch Martin war plötzlich halb tot aus der Wildnis aufgetaucht. Er erzählte ihnen alles, und
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