Drachenboot
weißen Christus umgebracht? Ihr habt diesen Gott gefoltert?«
»Nein«, erwiderte Avraham trotzig und unfreundlich. »Das waren die Römer, aber jetzt sind sie Anhänger dieses Christus geworden, deshalb geben sie uns die Schuld.«
Etwas ernüchtert lehnte Finn sich zurück und schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Selbst jetzt, wo er schon so lange tot ist, schafft es dieser feige Christus immer noch, dass die Menschen sich
über ihn streiten«, sagte er, und Jon warf ihm einen unwilligen Blick zu.
»Na ja, auf jeden Fall war es aber kein Christusanhänger, der den Krieg gegen die Chasaren und die Bulgaren geführt hat«, gab ich zu bedenken, und es trat Stille ein, als alle an Swjatoslaw, den großen Prinzen von Kiew, dachten.
»Idu na vy«, sagte Tien traurig, und alle schwiegen. »Ich werde euch angreifen« – das war Swjatoslaws letzte Botschaft gewesen, ehe er sie besiegt hatte. Jetzt war auch er gegangen, und die Steppe war frei. Avraham blickte düster drein.
»Ob sie aufeinander losgehen werden?«, fragte Jon leise, und ich zuckte mit den Schultern. Tien schwieg, und wir alle beobachteten ihn mit Spannung – solange sie sich nur anknurrten wie Straßenköter, machte es uns nichts aus.
»Warten wir ab, wie kalt es noch wird«, sagte der kleine Bulgare schließlich mit seinem stockenden Nordisch, das er mit starkem Akzent sprach. »Ich kenne die Anzeichen. Wenn wir im weißen Nichts so weit nördlich bleiben wie jetzt, wird der grüne Wein auch diesmal zu Sirup werden.«
Gyrth sah aus wie ein mottenzerfressener Bär, der zu früh aus dem Winterschlaf geweckt worden ist, aber er wusste sofort die Lösung für diese drohende Gefahr: »Dann sollten wir ihn besser austrinken, ehe es zu einer solchen Tragödie kommt.«
Finn prostete ihm zu, dann hielt er sein Trinkhorn Thordis hin, die ihn erstaunt ansah, es dann aber nahm und trank.
»Rück dichter heran«, forderte Finn sie auf, »dann wird dir wärmer.«
»Das ist ein ziemlich alter Trick«, sagte Thordis trocken.
»Kein Trick«, sagte Finn. »Dir ist kalt, und mir ist auch
kalt. Ich schulde dir zumindest etwas Wärme, sozusagen als Wergeld.«
Sie machte große Augen, denn es war das erste Mal, dass dieses Thema angesprochen wurde. Ihr Mann war umgekommen, als die Männer von Klerkons Raubzugstruppe eigentlich die Eingeschworenen gesucht hatten. Andererseits hatten diese Eingeschworenen aber dann ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um Thordis aus der Sklaverei zu befreien. Wegen dieses Problems würden irgendwann bei einem späteren Thing noch die Köpfe rauchen.
Thorgunna stieß ihre Schwester vielsagend an, und diese rückte tatsächlich näher ans Feuer und damit auch an Finn heran, der zufrieden brummte.
»Na also«, sagte Kvasir und sah aufgeräumt in die Runde, »hier sitzen wir nun, warm und satt und mit der Aussicht, reich zu werden. Ich könnte mir Schlimmeres vorstellen.«
»Wie die Schwalbe sagte«, kam eine vertraute Stimme aus der Dunkelheit. Olaf trat näher, auch der Elchhund neben ihm schob sich näher ans Feuer, und alle sahen ihn gespannt an, nur Thorgunna sah ihn mit liebevollem Blick an.
»Was für eine Schwalbe?«, wollte Jon wissen, und Krähenbein, dessen Wangen und Lippen vor Kälte weiß waren, zog seinen weißen, mit Pelz besetzten Umhang enger um sich und setzte sich Thorgunna zu Füßen, die ihm seine weiße Wollmütze abnahm und verträumt anfing, sein nachwachsendes blondes Haar zu kämmen.
»Es war einmal eine Schwalbe, die den Winter völlig missachtete«, sagte Olaf, und alle brummten zufrieden und setzten sich bequemer hin, denn wenn er sie auch verunsicherte, so schätzten sie doch seine Geschichten.
»Nennen wir sie Kvasir«, fügte er hinzu, was mit leisem Gelächter quittiert wurde, worauf Kvasir, der auf der anderen Seite des Feuers saß, dem jungen Prinzen zuprostete.
»Und die Schwalbe Kvasir flitzte und schwirrte den ganzen Sommer über umher, bis in den Herbst hinein, als ihre Brüder und Schwestern und alle Freunde verkündeten, sie würden jetzt in wärmere Länder ziehen, ehe der Schnee kam.
Aber Kvasir hatte viel zu viel Spaß und hörte nicht auf sie, also flogen sie ohne ihn fort. Und er schwirrte weiter umher, obwohl es immer kälter wurde und er jeden Tag weniger zum Fressen fand. Eines Tages war es schließlich so kalt, dass er merkte, er hatte einen Fehler gemacht. ›Ich muss ganz schnell fliegen und die anderen einholen‹, sagte er sich. Und er brach auf, aber es war zu spät.
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