Drachenelfen
Bibliothek ohne eine
achtungsvolle Verbeugung vor den Artefakten jener, die vor langer Zeit vom
Angesicht der Welt verschwunden waren. Daher war Bruder Pforte nicht
überrascht, den Hüter der Seelen vor dem Kristallschrein innehalten zu sehen,
der die Schriftrollen der Sartan und mehrere ledergebundene Werke enthielt.
Schwester Buch hielt es ebenfalls für selbstverständlich, beide neigten dem
Beispiel ihres Superiors folgend, den Kopf, dann aber sahen sie verwundert zu,
wie er die Hand auf den Schrein legte und die Zauberformel sprach. Der Kristall
löste sich unter seiner Berührung auf. Er griff in den Kasten und nahm ein
schmales, unscheinbares Bändchen heraus, das ganz zuunterst lag. Ein Schatten
fiel über sein Gesicht.
»Ich fange an zu glauben, daß wir einen
furchtbaren Fehler gemacht haben. Aber« – er hob die Augen zum Himmel – »wir
hatten Angst.« Er senkte den Kopf und seufzte. »Die Menschen und Zwerge sind
anders als wir. So grundlegend anders. Aber wer weiß? Vielleicht hilft uns dies
hier zu gegenseitigem Verstehen.«
Er schob das Büchlein in den weiten Ärmel seiner
vielfarbigen Kutte und ging vor den beiden anderen her zwischen den
Regalreihen hindurch, bis er vor einer kahlen Mauer stehenblieb. Etwas in
seiner Haltung veränderte sich, seine Miene wurde zu Stein. Er drehte sich
herum, und zum erstenmal, seit sie zu ihrer Expedition aufgebrochen waren, sah
er Schwester Buch und Bruder Pforte ins Gesicht.
»Wißt ihr, weshalb ich euch hergeführt habe?«
»Nein, Vater Superior«, murmelten sie –
wahrheitsgemäß, denn keiner von beiden hatte eine Ahnung, weshalb man hier
stehen und auf eine nackte Wand starren sollte, während in der Welt draußen
große und bedeutungsvolle Ereignisse sich ankündigten.
»Aus diesem Grund«, sagte Bruder Seele. Seine gewöhnlich
sanfte Stimme klang hart. Er legte die flache Hand gegen einen Teil der Wand
und drückte.
Der Teil gab nach, drehte sich glatt und
geräuschlos um eine Mittelachse und gab den Blick frei auf eine primitive
Stiege, die ins Dunkel hinunterführte.
Schwester Buch und Bruder Pforte sprachen
gleichzeitig.
»Wie lange…?«
»Wer…?«
»Die Unsichtbaren«, antwortete Bruder Seele grimmig.
»Die Treppe führt zu einem Stollen, durch den man geradewegs zu ihren Verliesen
gelangt. Ich weiß es, ich bin da gewesen.«
Die beiden anderen sahen ihren Superior
sprachlos an, bestürzt von der Entdeckung und voller böser Vorahnungen.
»Wie lange dieser Stollen schon existiert, weiß
ich nicht. Ich habe selbst erst seit ein paar Zyklen Kenntnis davon. Eines
Nachts konnte ich nicht schlafen und dachte, meine Nerven durch Lesen zu
beruhigen. Ich kam zu später Stunde her, wenn gewöhnlich nicht mehr damit zu
rechnen ist, daß noch jemand wacht. Dennoch waren sie auf der Hut. Ich nahm aus
den Augenwinkeln eine huschende Bewegung wahr. Womöglich hätte ich geglaubt,
meine Augen müßten sich erst an das helle Licht gewöhnen, nur hörte ich
gleichzeitig ein merkwürdiges Geräusch, das meine Aufmerksamkeit auf diese
Wand lenkte. Die Umrisse der Tür verschwanden eben.
Drei Nächte hielt ich mich versteckt und wartete
darauf, daß sie wiederkamen. Vergebens. Dann, in der vierten Nacht, wurde
meine Geduld belohnt. Ich sah sie kommen, sah sie gehen. Ich spürte den Zorn
von Krenka-Anris über dieses Sakrileg. Erfüllt von ihrer Macht, folgte ich
ihnen bis zu ihrem Schlupfwinkel – dem Verlies der Unsichtbaren.«
»Aber weshalb?« wollte Schwester Buch wissen.
»Haben sie gewagt, uns zu belauschen?«
»Ja, davon bin ich überzeugt«, nickte der Hüter
der Seelen ernst. »Und vielleicht hatten sie noch Schlimmeres vor. Die beiden,
die ich beobachten konnte, suchten zwischen den Büchern und zeigten besonderes
Interesse an denen der Sartan. Sie versuchten den Schrein aufzubrechen,
vermochten es jedoch nicht. Aber mir ist etwas Merkwürdiges an ihnen
aufgefallen.«
Während er wachsam die Mauer im Auge behielt,
senkte der Hüter die Stimme. »Sie bedienten sich einer Sprache, die ich nie
zuvor in dieser Welt gehört habe. Ich konnte nicht verstehen, was sie redeten.«
»Vielleicht haben die Unsichtbaren eine eigene,
geheime Sprache entwickelt«, äußerte Bruder Pforte. »Ähnlich dem Rotwelsch der
Menschen…«
»Vielleicht.« Bruder Seele schien nicht
überzeugt zu sein. »Was auch immer, es war furchtbar. Ihnen zuzuhören erfüllte
mich mit Entsetzen. Die Seelen der Toten
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