Drachenfedern I - Schicksalhafte Begegnung
überlassen, sondern weil sie ständig, seit dem Tod ihrer Mutter, Tränen in den Augen hatte und sogar hin und wieder mit bebenden Schultern in sich zusammensank.
Jonas nahm eine Hand vom Buch und fuhr sich mit zitternden Fingern durch das Haar. Dabei kippte die eine Seite nach unten, bog das Buch weiter auseinander und etwas rutschte aus dem Buch heraus, das sich offensichtlich im Buchrücken befunden hatte, und polterte hart auf den Linoleumboden.
Durch diese Bewegung der schweren Seiten wurde der Rücken, der beinahe so dick war wie Jonas' kleiner Finger, stark durchgebogen. Jonas blickte in die entstandene Lücke und entdeckte in dem dicken Buchrücken eine eingearbeitete Vertiefung in Form eines Schlüssels. Er sah nach unten und fand dort zu seinen Füßen einen rostfarbenen, alten Bartschlüssel, wie man sie aus typischen Fantasie- oder Historie-Filmen kannte, in denen gigantisch große, rostige Schlüssel uralte quietschende Türen öffnen konnten. Vielleicht war dieser Schlüssel nicht mehr, als das was findige Verlage ihren Kinderbüchern beilegten, kleine Figuren aus den Geschichten, Symbole oder andere Zugaben, damit die Kinder die Geschichten authentisch nachspielen konnten. Jonas glaubte jedoch nicht daran.
Der Schlüssel hatte eine Bedeutung. Er stellte nicht nur eine billige Beigabe dar, um es interessanter zu machen. Er war schwer, aus massivem Stahl. Man konnte sogar noch die Spuren der Feile erkennen, die ein geschickter Schlüsselmacher hier und dort angesetzt hatte, um ihn passend zu machen. Abgesehen davon schien das Buch selbst keine billige Produktion zu sein, die man mit einem alten Schlüssel aufwerten müsse. Das Leder war dick und fühlte sich echt an. Die Seiten wirkten handgeschöpft und waren nicht miteinander verklebt, sondern mit harten, dicken Sehnen zusammengebunden. Die Geschichten wirkten wie uralte Texte aus dem Mittelalter per Hand geschrieben oder mit einzelnen Lettern gedruckt. Es war in der Tat eine Kostbarkeit, die ihn mehr betraf, als er in diesem Moment wahrhaben wollte.
„Willst du es haben?“, erkundigte sich seine Mutter abermals.
„Ja“, gab Jonas knapp von sich und drückte Buch und Schlüssel an sich, als befürchtete er, dass es ihm abgenommen würde. Für ihn bedeutete es mehr als Erinnerungen aus seiner Kindheit. Für ihn war es ein weiterer Draht zu Fäiram.
„Danke“, setzte er schnell hinterher, schob den Schlüssel in sein Geheimfach zurück und stopfte es sich hinten in den Hosenbund.
Seine Mutter nickte einmal und begab sich wieder ins Wohnzimmer, um den reichhaltig gefüllten Schrank zu leeren.
Fäiram saß wie auf glühenden Kohlen.
Da ihn eine unliebsame Aufgabe seines Vaters dazu gezwungen hatte, den Termin mit seinem menschlichen Geliebten Jonas nicht wahrnehmen zu können, wurde er nun immer unruhiger und ungeduldiger. Er war sonst sanftmütig und geduldig, in letzter Zeit allerdings ertappte er sich immer öfter dabei, wie er die Bediensteten anfuhr oder sie wegen Kleinigkeiten beschimpfte.
Ihm fehlte der junge Mann aus der Menschenwelt. Zudem hatten sich die Visionen seit ihrem Zusammentreffen extrem rargemacht. Lediglich zweimal hatte er einen Einblick in die Welt seines menschlichen Geliebten bekommen dürfen. Jedes Mal nur sehr kurz, und lange nicht so nachhaltig, wie zuvor. Einmal glaubte er, sich in einem hellen Raum mit vielen Leuten zu befinden. Erst als die Vision vorbei war, begriff er, dass es sich um eine von Jonas handelte.
Beim zweiten Mal befand er sich gerade bei einem Empfang von Würdenträgern, als ihn eine laute Jungenstimme herumfahren ließ. Auch diese war so kurz gewesen, dass sie vorbei war, ehe er es richtig begreifen konnte. Wie viele Stunden er vor dem Spiegel in seinem Badezimmer gestanden und auf eine Vision gewartet hatte, vermochte er nicht mehr zu zählen.
Er vermisste Jonas.
Und er vermisste Tuniäir, der sich ebenfalls nicht mehr bei ihm gemeldet hatte, seit sie Jonas in der Menschenwelt aufgespürt und nach Häälröm gebracht hatten.
Er war erneut allein.
Allein mit sich und seiner Sehnsucht.
Und dem Ärger und dem Druck seines Standes.
Wie jetzt ebenfalls. Er musste sich eigentlich für einen Empfang vorbereiten. Ein Empfang für eine hochwohlgeborene Tochter, die sich wie jede ihrer Vorgängerinnen höchst entzückt darüber zeigte, dem Prinzen von Häälröm als Gemahlin vorgeschlagen worden zu sein.
Fäiram hasste es. Er hasste diese Empfänge, die sich auf unerklärliche Weise
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