Drachengasse 13, Band 04
erreicht: die vielleicht entlegenste Ecke der gesamten Bibliothek. Obwohl draußen helllichter Tag war, fiel kaum Licht hier herein, denn das einzige Fenster in der Nähe war wenig größer als ein halber Zwerg und bestand aus farbigen Butzenscheiben. Mitten in der Ecke standen ein schwerer Tisch aus dunklem Holz und ein Stuhl aus demselben Material. Davon abgesehen sah Hanissa nur leere Regale vor kahlen Steinwänden, den nackten Fußboden und die gewölbte Decke.
Hier war sie richtig.
Ein letztes Mal blickte sie sich vorsichtig um und spitzte die Ohren. Waren sie und Fleck auch wirklich allein? Es sah so aus. „Ich suche das Buch Von der hohen Kvnst des Verschwyndens von Magister Kunibertus dem Farbenblinden“, sagte sie in Richtung der Wand. „Bitte.“
Nichts geschah. Fleck schaute sie fragend an.
„Ich werd’s nicht noch mal sagen“, betonte Hanissa. „Entweder ihr zeigt es mir, oder ich … “
„Gibt’s hier nicht“, erklang plötzlich eine Stimme aus dem Nichts.
Kurz darauf hörte sie ein Klatschen, gefolgt von einem unzufriedenen „Autsch!“.
Fleck zuckte überrascht mit den Flügelchen und versteckte sich hinter Hanissa.
„Ich weiß, dass ihr da seid“, sagte sie. „Das Versteckspiel könnt ihr euch also sparen.“
„Weißt du gar nicht“, erwiderte die Stimme überzeugt. „Uns sieht nämlich kei…“
Der Rest des Wortes ging in einem weiteren Klatschen unter.
„Tut das nicht weh, ständig eins auf den Kopf zu bekommen, Hein Lich?“, fragte Hanissa grinsend.
„Doch“, antwortete die Luft vor ihr kleinlaut. „Aber ich bin gar nicht Hein Lich.“
„Stimmt, du bist Däm Lich“, brummte eine zweite Stimme resigniert. „Die sieht dich nicht, richtig. Aber hast du vielleicht mal daran gedacht, dass sie dich hört ? He?“
Für einen Moment war es totenstill in der Ecke. Dann seufzte die erste Stimme. „Oh, oh … “
„Ganz genau, du Erbsenhirn“, erwiderte die zweite. „Und du weißt, was das jetzt bedeutet, ja?“
„Dass sie zwei Wünsche frei hat“, gestand Hein Lich zerknirscht. „So steht es geschrieben in den Annalen unseres Volkes: Wer Kamäliden finden kann, dem seien sie zweifach untertan. “
Die zweite Stimme seufzte. Hanissa konnte sich nur zu gut vorstellen, wie das kleine Wesen, das dort hinten auf dem leeren Bücherregal sitzen musste, traurig den Kopf schüttelte. Kamäliden waren sehr seltene Wesen und kaum größer als ein Unterarm. Ihre Haut war lichtdurchlässig, weswegen niemand außer ihnen selbst sie sehen konnte. Hanissa kannte Hein Lich und Claas Claar schon eine ganze Weile, betreuten diese beiden – ihres Wissens nach die einzigen Kamäliden in ganz Bondingor – doch die Abteilung für Unsichtbarkeitszauber in der Magischen Bibliothek. Niemand fand sich hier besser zurecht als sie – nicht zuletzt, da die Unsichtbarkeitsbücher selbst mit einem Unsichtbarkeitszauber gesichert waren.
„Und ich wünsche mir, dass ihr mir Magister Kunibertus’ Zauberbuch gebt“, sagte Hanissa. „Legt es bitte so auf den Tisch, dass ich es lesen kann.“
Hein räusperte sich. „Und danach ist Wunsch eins erfüllt?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Voll und ganz.“
Das schien den Kamäliden zu beruhigen, denn wenige Sekunden später hörte Hanissa, wie er und Claas keuchend etwas aus einem der scheinbar leeren Regale hievten und zum Tisch trugen. Staub stieg auf, als das dicke Buch auf die Tischplatte plumpste.
„Fertig“, sagte Hein Lich zufrieden.
Hanissa verzog missbilligend das Gesicht. Kamäliden versuchten doch immer wieder, ihre Gegenüber zu übertölpeln. „Habt ihr nicht etwas vergessen?“
„Na gut, na gut“, brummte das Wesen enttäuscht. Dann sagte es einen magischen Spruch, den zu benutzen es die ausdrückliche Genehmigung des Erzmagisters hatte, und Von der hohen Kvnst des Verschwyndens wurde sichtbar.
„Danke schön“, säuselte Hanissa, strich dem erstaunten Fleck über den Kopf und setzte sich auf den Stuhl.
Dies war das Buch, in dem sie einst von der Drachengasse 13 erfahren hatte. Wer auch immer das Haus unbeabsichtigt verzaubert hatte, hatte dies handschriftlich am Seitenrand vermerkt. Und wenn Hanissa sich nicht irrte, stand da sogar ein Datum.
Nach einigen Minuten des Blätterns fand sie die Stelle. „Tatsächlich“, stieß sie zufrieden hervor, zog ein Stück Pergament und einen kleinen Kohlestift aus der Rocktasche und notierte sich die Angaben.
Sie wollte Kunibertus’ Buch schon wieder zuklappen, als ihr
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