Drachenkampf
saß in dem friedlichen, sonnigen Garten eines der zahlreichen Klöster des Faubourg Saint-Jacques .
Wenn die Hitze erträglich war, verbrachte sie dort den Großteil ihrer Tage damit, zu lesen und zu warten. Dabei saß sie in einem Sessel, den man auf ihr Geheiß hin nach draußen brachte. Sonst führte sie das geordnete Leben der Nonnen, das von dem Rhythmus aus Gebeten und Mahlzeiten bestimmt wurde. Nichts zwang sie wirklich dazu, aber es entsprach der Rolle, die sie für sich entworfen hatte – der Rolle einer reichen, frommen Witwe, die der Welt überdrüssig war und den Wunsch hatte, die letzten Jahre ihres Lebens von ihr zurückgezogen zu verbringen. Hier war sie Madame de Chantegrelle.
Einen Monat zuvor jedoch war sie noch die Marquise de Malicorne gewesen, die dank der Magie nicht älter erschienen war als zwanzig Jahre. Ein Alter, kaum trügerischer als das, welches man ihr nun unterstellte. Denn die Anzahl ihrer Lebensjahre überschritt das normale Maß um ein Vielfaches – normal für die menschliche Art wohlgemerkt.
Aber sie war ein Drache.
Die vermeintliche Madame de Chantegrelle hob den Blick von ihrem Buch und seufzte angesichts des Gartens und des Lebens, das gegenwärtig das ihre war.
Sie hatte es so genossen, die Marquise de Malicorne zu sein. Damals verfügte sie über Jugend, Schönheit, Reichtum und Macht. Ganz Paris hofierte sie und buhlte um ihre Gunst. Wie schade, dass sie diese Rolle hatte aufgeben müssen. Offiziell war die Marquise bei einem Brand ums Leben gekommen, der nichts als eine verkohlte und vollkommen unkenntliche Leiche von ihr übrig gelassen hatte. Doch die war tatsächlich die einer Unglückseligen gewesen, die man in der Gosse aufgelesen hatte. Ein tragischer Verlust, in Paris allerdings ein beinahe banales Drama, wo das Feuer der Grund für viel Unheil war …
Die Wahrheit war, dass das Ritual, das ihren Triumph hätte bedeuten sollen, zu ihrem Untergang geführt hatte. Eine andere hätte diese Schmach zweifellos nicht überlebt. Doch das milderte nicht ihr Bedauern – und es verringerte gewiss nicht den Wunsch nach Rache, der in ihr brannte. Ohne den Kardinal Richelieu, ohne Hauptmann La Fargue und seine verfluchten Klingen stünde sie heute an der Spitze von Frankreichs erster Loge der Schwarzen Kralle …
Leichte Schritte auf dem Kiesweg zogen die Aufmerksamkeit der jetzigen Madame de Chantegrelle auf sich. Eine Nonne trat zu ihr, die sich zunächst vergewisserte, dass sie nicht schlief, und ihr dann ein paar Worte ins Ohr flüsterte. Die alte Frau nickte und verdrehte sich dann den Hals nach demjenigen, dessen Besuch ihr soeben angekündigt worden war und der etwas abseits unter einem steinernen, von blühenden Rosenstöcken umrankten Bogen wartete. Ein Anflug von Überraschung und Furcht zeichnete sich auf Madame de Chantegrelles Gesicht ab. Dennoch empfing sie ihren Besucher mit einem liebenswürdigen Lächeln und bot ihm anmutig die Hand zum Kuss.
Der Mann war ganz in Grau und Schwarz gekleidet, wie ein Edelmann, und er trug einen Degen an der Seite. Er wirkte Furcht einflößend, war groß, eher schmal und würdevoll. Sie schätzte ihn auf fünfzig oder fünfundfünfzig Jahre. Sein Gesicht war oval, ausgemergelt, aber mit seltsam glatter Haut, die wie über die Kanten seines Gesichts gespannt wirkte. Hinzu kam eine kränkliche Blässe, die von Verfall sprach. Und Augen von eisigem Grau, die er zusammenkniff, wenn er hustete – einen trockenen, schroffen, tief sitzenden Husten – und sich mit seinem Taschentuch die dünnen, leichenblassen Lippen abtupfte.
Genau wie die, mit der er sich traf, war auch er ein Drache. Er hatte schon viele Namen getragen, von denen sie nur einige kannte. Aber der, den er vorzog, war ein Deckname: der Alchemist der Schatten.
Woher kam dieser Name eigentlich? Sie wusste es nicht. Was es auch sein mochte, mit diesem Pseudonym – und manchmal auch nur mit einem Zeichen, das aus den ineinander verschlungenen Buchstaben A und S bestand – bedachte die Schwarze Kralle ihre besten unabhängigen Spione.
Einer Novizin, die einen Stuhl gebracht hatte, dankte der Alchemist mit einem Kopfnicken, bevor er sich setzte. Doch dabei handelte es sich weniger um eine Dankesbezeigung, als vielmehr um eine Kenntnisnahme der Sitzgelegenheit, die man ihm zur Verfügung stellte, eine Sache, die ihm als eine Selbstverständlichkeit erschien.
»Ich habe schon seit einer Weile Kenntnis von Eurem Verdruss, Madame, aber erst jetzt habe ich die Zeit
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