Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
die Wirklichkeit zurück. Es ist kaum zu verstehen, was er vor sich hin stammelt, aber wohl weniger, weil er nicht will, daß es jemand hört, als vielmehr wegen der offensichtlichen Konfusion, die sich seiner bemächtigt hat. Vom Sauermilchgrau in seinem Gesicht ist nur noch ein kleiner Klecks am Kinn geblieben, alles übrige glüht in hitzigem Rot, die Ohrmuscheln gar so, als träte das Blut aus den Poren. Er ist völlig in sich zusammengesunken und keucht: “Er kennt Rikkitikkitavi, jetzt bin ich erledigt… Beim Großen Sirius, was soll jetzt werden…”
Hendrikje kann das nicht mit ansehen und klopft ihm begütigend auf die Schulter. Aber seine Reaktion erschreckt sie: Reinold zuckt wie unter einem elektrischen Schlag zusammen und starrt sie aus entsetzt flackernden Augen an.
“Du wirst mich Rikkitikkitavi verraten, du weißt alles!” zischt er plötzlich böse.
“Ruhig, Reinold… Im Augenblick bist du es, der dich verrät…, sei ruhig…”, flüstert Hendrikje, und sie kann auf einmal ganz kalt und nüchtern denken. “Du brauchst nichts zu fürchten…, ich kenne diesen Rikkitikkitavi doch gar nicht.”
Es gelingt ihr tatsächlich, Dirtiquanz zu besänftigen, und das ist sehr wichtig für ihren blitzschnell gefaßten Entschluß. Sie schafft es auch, Reinold nach dem Schichtwechsel in eine Kristo zu locken, und erfährt von ihm, daß Rikkitikkitavi der Deckname für den Präsidenten der Mungoliga ist…
Reinold aber redet weiter wie unter einem geheimnisvollen Zwang – allerdings erst, als sie in seinem Wohnkontingent sind und er zweimal mit mäßigem Erfolg versucht hat, ihr etwas Freude zu verschaffen. Angesichts seines desolaten seelischen Zustands hat sie ohnehin nicht viel erwartet, und es war ja auch nicht Lust, was sie von ihm wollte. Er erzählt, woher er so gut Bescheid weiß, und da erst wird Hendrikje schlagartig klar, warum es bei ihm immer so schnell geht. Reinold ist ein Mungo… Bisher ist es ihm gut gelungen, seinen gesundheitlichen Zustand vor der Öffentlichkeit zu verbergen – bis auf eine Ausnahme, wie sie noch erfährt.
Hendrikje erhält Kenntnis von Dingen, die sie entsetzen, verschüchtern, verwirren und aufregen.
Reinold ist ein Mungo, aber Mungo ist nicht gleich Mungo. Es gibt eine Mungoliga und eine Mungologe, daneben noch eine Menge unbedeutender Splittergruppen und die unübersehbare Masse der Unorganisierten. Die Liga fordert die totale Integration, die Loge ist dagegen, weil sie deren Unmöglichkeit erkannt hat, sie verlangt die Bereitstellung irdischen Territoriums. Gemeinsam lehnen beide Gruppierungen die Umsiedlung auf einen anderen Planeten mit der Begründung ab, dann könnten doch auch die “Langsamen” umsiedeln. Die Liga schimpft die Loge einen Haufen unzurechnungsfähiger Separatisten, die Loge nennt die Liga eine Mafia von gewissenlosen Umstürzlern – und beide Organisationen arbeiten mit dem Rat für Koordination zusammen, wenn es darum geht, dem anderen zu schaden.
Reinold bezeichnet sich als einen Ligisten, und er ist der Meinung gewesen, die anderen drei seien Mitglieder der Loge. Daß Ivara unbehelligt blieb, kann auch er sich nicht erklären. Einen Augenblick hat Hendrikje das Gefühl, es müsse sie auseinanderreißen. Es gibt doch nur eine Erklärung: Aberschwenz gehört der Loge an und weiß genau Bescheid, hat die beiden Ligisten mit Vergnügen dem MOBS gemeldet und Ivara – die demzufolge zur Loge gehört – gedeckt!
Als sie Reinold verläßt, ist Hendrikje um einige Erkenntnisse reicher und um vieles ärmer. Warum eigentlich hat sie sich zu Dirtiquanz gelegt? Bis auf Ergar – und vielleicht Goff? – würde niemand sie danach fragen. Aber sind die Selbstvorwürfe nicht diejenigen, die man am allerwenigsten ignorieren kann? Ist es nicht so gleichgültig, ob andere einen schlecht nennen, wenn man genau weiß: Es stimmt nicht. Und ist es nicht die Hölle auf Erden zu wissen: Die, welche dich gut nennen, irren?
Bei diesen komplizierten Überlegungen angelangt, greift Hendrikje zu einem demagogischen Trick und beschließt, sich für eine außergewöhnliche nichtdigitalisierbare Persönlichkeit zu halten. Das Ergebnis befriedigt sie durchaus. Sie schiebt sich gutgelaunt eine Qualle zwischen die Backenzähne und ist stolz auf sich.
Ein Gedanke jedoch beschäftigt sie noch am folgenden Morgen: Einfach hinfliegen und mit den Leuten reden, hat Reinold gesagt.
Aberschwenz zieht mißbilligend die Brauen hoch, als sie diesen Wunsch vorträgt.
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