Drachenläufer
kleiner Junge. Ein Waisenkind. Hassans Sohn. Der irgendwo in Kabul war.
Auf der Fahrt in der Rikscha zurück zu Rahim Khans Wohnung fiel mir ein, dass Baba einmal gesagt hatte, mein Problem bestehe darin, dass immer jemand meine Kämpfe für mich ausgefochten habe. Jetzt war ich achtunddreißig Jahre alt. Ich bekam eine leichte Stirnglatze, mein Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und in der letzten Zeit entdeckte ich immer mehr kleine Krähenfüße an den Augenwinkeln. Ich war jetzt älter, aber vielleicht noch nicht zu alt, um damit zu beginnen, meine Kämpfe selbst auszufechten. Wie sich herausgestellt hatte, hatte Baba bei vielen Dingen gelogen, aber was das anging, hatte er Recht gehabt.
Ich betrachtete erneut das runde Gesicht auf dem Polaroidfoto, das den Betrachter anblinzelte. Das Gesicht meines Bruders. Hassan hatte mich geliebt, auf eine Weise geliebt, wie es kein anderer jemals getan hatte oder jemals tun würde. Er war jetzt tot, aber ein Teil von ihm lebte weiter. In Kabul.
Rahim Khan betete gerade in einer Ecke des Zimmers sein namaz, als ich eintrat. Er war nur eine dunkle, nach Osten gebeugte Silhouette vor einem blutroten Himmel. Ich wartete, bis er geendet hatte.
Dann eröffnete ich ihm, dass ich nach Kabul fahren würde. Trug ihm auf, am Morgen die Caldwells anzurufen.
»Ich werde für dich beten, Amir jan«, gab er mir mit auf den Weg.
19
Wie s o oft wurde mir wieder vom Autofahren übel. Als wir das von Kugeln durchlöcherte Schild mit der Aufschrift »The Khyber Pass Welcomes You« passierten, kam mir die Galle hoch. Mein Magen war in Aufruhr. Farid, mein Fahrer, warf mir einen strengen Blick zu. Von Mitleid war bei ihm nicht viel zu spüren. »Kann ich das Fenster aufmachen?«, fragte ich.
Er zündete sich eine Zigarette an und klemmte sie zwischen die beiden einzig verbliebenen Finger seiner linken Hand, mit der er das Lenkrad gepackt hielt. Die schwarzen Augen starr auf die Straße gerichtet, beugte er sich vor, langte nach dem Schraubenzieher, der zwischen seinen Füßen lag, und reichte ihn mir. Ich steckte ihn in das kleine Loch in der Tür, wo die Kurbel gesteckt hatte, und drehte die Scheibe herunter.
Farid warf mir wieder einen flüchtigen Blick zu, der kaum verhohlen Ablehnung zum Ausdruck brachte, und paffte an seiner Zigarette. Seit unserer Abfahrt von Jamrud Fort hatte er nicht mehr als ein Dutzend Wörter von sich gegeben.
»Tashakkor«, murmelte ich. Ich steckte den Kopf zum Fenster hinaus und ließ mir den kühlen Fahrtwind um die Nase wehen. Die mit ihren unzähligen Kurven durch die dünn besiedelte Landschaft am Khyber-Pass führende Straße entsprach noch ziemlich genau meiner Erinnerung. 1974 war ich mit Baba schon einmal durch diese Einöde aus Schiefer - und Kalkfelsen gefahren. Aus tiefen Schluchten erhoben sich gewaltige sonnenverbrannte Berge mit schroffen Spitzen. Alte Festungen, aus Lehmziegeln gemauert, thronten über den Felsen. Ich versuchte, die schneebedeckten Gipfel des Hindukusch im Norden zu fixieren, doch sobald sich mein Magen etwas beruhigt hatte, schleuderte der Wagen um eine weitere Kurve und brachte mich erneut zum Würgen.
»Versuch's mal mit einer Zitrone.«
»Was?«
»Zitrone. Gut gegen Kotzerei«, antwortete Farid. »Ich hab auf solchen Fahrten immer welche dabei.«
»Nay, danke.« Allein der Gedanke an noch mehr Säure schlug mir zusätzlich auf den Magen.
»Vielleicht nicht so schick wie amerikanische Medizin, wirkt aber trotzdem.« Farid kicherte. »Ist von meiner Mutter.«
Ich bedauerte die verpasste Gelegenheit, das Eis zwischen uns zu brechen. »Wenn dem so ist, probier ich's gern mal aus.«
Er angelte nach einer Papiertüte auf dem Rücksitz und kramte eine Zitronenhälfte hervor. Ich presste mir den Saft in den Mund und wartete ein paar Minuten. »Tatsächlich, ich fühle mich schon besser«, log ich. Höflichkeit geht in Afghanistan vor Wahrheitsliebe. Ich rang mir ein Lächeln ab.
»Altes watan /-Mittel. Raffinierte Medizin hat unsereins nicht nötig«, sagte er, und seine Stimme klang geradezu brüsk. Er schnippte die Asche von der Zigarette und betrachtete sich selbstgefällig im Rückspiegel. Er war ein Tadschike, ein schlaksiger dunkelhäutiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht, schmalen Schultern und einem langen Hals mit vorstehendem Adamsapfel, der allerdings, vom Bart verdeckt, nur dann zu sehen war, wenn er den Kopf drehte. Er trug in etwa die gleiche Kleidung wie ich, oder richtiger formuliert war ich
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