Drachenläufer
Ich beugte mich vor und zog sie fest. Wenn ich doch nur alles in meinem Leben genauso leicht wieder in Ordnung bringen könnte. Ich nahm einen Schluck von dem schwärzesten Tee, den ich seit Jahren getrunken hatte, und versuchte an Soraya zu denken, an den General und Khala Jamila, an den Roman, der fast fertig war. Ich versuchte den Straßenverkehr zu beobachten, der vorüberströmte, die Menschen, die sich in die kleinen Süßwarenläden hinein- und wieder herausdrängten. Versuchte der Qawa//-Musik zu lauschen, die aus dem Transistorradio erklang, das auf dem Nebentisch stand. Versuchte alles, um mich abzulenken. Aber ich sah immer nur Baba vor mir, wie er am Abend meiner Schulabschlussfeier, nach Bier riechend, neben mir in dem Ford saß, den er mir gerade geschenkt hatte, und sagte: Ich wünschte, Hassan hätte heute bei uns sein können.
Wie hatte er mich nur all die Jahre anlügen können? Und vor allem Hassan? Er hatte mich als kleinen Jungen auf seinen Schoß gesetzt, mir in d ie Augen geblickt und erklärt: Es gibt nur eine einzige Sünde. Und das ist der Diebstahl... Wenn du eine Lüge erzählst, stiehlst du einem anderen das Recht auf die Wahrheit. Hatte er nicht diese Worte zu mir gesagt? Und jetzt, fünfzehn Jahre nachdem ich ihn begraben hatte, erfuhr ich, dass Baba ein Dieb gewesen war. Und dazu noch ein Dieb der übelsten Sorte, denn die Dinge, die er gestohlen hatte, waren heilig: Mir hatte er das Recht genommen zu erfahren, dass ich einen Bruder hatte, Hassan hatte er seine Identität genommen und Ali seine Ehre. Sein nang. Sein namoos.
Immer wieder fragte ich mich, wie Baba es fertig gebracht hatte, Ali in die Augen zu blicken. Wie Ali es fertig gebracht hatte, Tag für Tag in dem Bewusstsein in diesem Haus zu leben, dass er auf die schlimmstmögliche Weise entehrt worden war, die man einem afghanischen Mann zufügen konnte. Und wie sollte ich dieses neue Bild von Baba mit dem Bild in Einklang bringen, das sich so lange in meinem Kopf eingeprägt hatte, das Bild von einem Mann in einem alten braunen Anzug, der die Einfahrt der Taheris hinaufhinkt, um für mich um Sorayas Hand zu bitten?
Hier ist ein weiteres Klischee, über das sich mein Dozent an der Universität gewiss abschätzig geäußert hätte: wie der Vater, so der Sohn. Aber es stimmte doch, oder etwa nicht? Im Grunde waren Baba und ich uns ähnlicher, als ich jemals gedacht hatte. Wir hatten beide die Menschen verraten, die ihr Leben für uns geopfert hätten. Und in dem Moment wurde mir noch etwas klar: Rahim Khan hatte mich nicht nur hierher gerufen, damit ich für meine Sünden büßte, sondern auch für Babas.
Rahim Khan hatte gesagt, dass ich immer zu streng mit mir selbst gewesen sei. Aber das bezweifelte ich. Es stimmte wohl, dass nicht ich Ali dazu gebracht hatte, auf die Landmine zu treten, und dass nicht ich die Taliban ins Haus geschickt hatte, um Hassan zu töten. Aber meine schrecklichen Schuldgefühle gegenüber Hassan hatten dazu geführt, dass ich ihn und Ali aus dem Haus getrieben hatte. War es da zu weit hergeholt, sich vorzustellen, dass sich die Dinge möglicherweise anders entwickelt hätten, wenn ich das nicht getan hätte? Vielleicht hätte Baba sie nach Amerika mitgenommen. Vielleicht hätte Hassan inzwischen ein eigenes Zuhause, einen Job, eine Familie, ein Leben in einem Land, wo sich niemand darum scherte, dass er ein Hazara war, wo die meisten Menschen nicht einmal etwas mit diesem Wort anfangen konnten. Vielleicht auch nicht. Aber vielleicht eben doch.
Ich kann nicht nach Kabul fahren, hatte ich zu Rahim Khan gesagt. Ich habe eine Frau in Amerika, ein Haus, eine Karriere und eine Familie. Aber wie könnte ich jetzt einfach von hier verschwinden und wieder nach Amerika zurückkehren, wo doch mein Handeln dazu geführt hatte, dass Hassan jegliche Möglichkeit genommen worden war, das zu besitzen, was ich besaß?
Hätte mich Rahim Khan doch nur nicht angerufen! Hätte er mich doch nur im Dunkeln über all diese Dinge gelassen! Aber er hatte mich angerufen. Und Rahim Khans Enthüllungen hatten vieles verändert. Sie hatten mich dazu gebracht, einzusehen, dass mein Leben lange vor dem Winter 1975, schon zu der Zeit, als mich noch die singende
Hazara-Frau stillte, ein einziger Teufelskreis aus Lügen, Verrat und Geheimnissen gewesen war.
Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen, hatte Rahim Khan gesagt. Eine Möglichkeit, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.
Und diese Möglichkeit bot mir ein
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