Drachenläufer
zu einer Geisterstadt geworden. Einer Stadt mit Hasenschartengeistern.
Amerika war anders. Amerika war ein Fluss, der dahinbrauste, ohne sich um die Vergangenheit zu scheren. Ich konnte in diesen Fluss hineinwaten, meine Sünden in ihm ertränken und mich von seinem Wasser weit wegtragen lassen. Dahin, wo es keine Geister gab, keine Erinnerungen, keine Sünden.
Allein aus diesem Grund nahm ich dieses Land bereitwillig an.
Im folgenden Sommer, dem Sommer des Jahres 1984 - der Sommer, in dem ich einundzwanzig wurde -, verkaufte Baba seinen Buick und kaufte sich für 550 Dollar einen schäbigen alten 71er Volkswagen von einem afghanischen Bekannten, der in Kabul an einer Oberschule Naturwissenschaften unterrichtet hatte. Die Köpfe der Nachbarn drehten sich nach uns um, als wir eines Nachmittags mit dem Bus die Straße hinaufgestottert kamen und er über den Parkplatz hinwegfurzte. Baba schaltete den Motor aus und ließ den Bus leise zu unserem Stellplatz ausrollen. Wir sanken in unsere Sitze, lachten, bis uns die Tränen über die Wangen liefen und - viel wichtiger - bis wir sicher sein konnten, dass die Nachbarn uns nicht mehr beobachteten. Der Bus war ein traurig anzusehender rostiger Schrotthaufen; die kaputten Fenster waren durch schwarze Müllbeutel ersetzt worden, die Reifen fast abgefahren und die Polster bis auf die Sprungfedern zerfetzt. Aber der alte Lehrer hatte Baba versichert, dass der Motor und das Getriebe noch in Ordnung seien, und was das anging, hatte der Mann nicht gelogen.
Samstags weckte mich Baba im Morgengrauen. Während er sich anzog, überflog ich die Kleinanzeigen in den Lokalzeitungen und kreiste die Anzeigen ein, die Garagenverkäufe ankündigten, wo also Privatleute in ihren Garagen Haushaltsgegenstände und Trödel verkauften. Wir planten unsere Strecke: zuerst Fremont, Union City, Newark und Hayward und dann San Jose, Milpitas, Sunnyvale und, wenn genug Zeit übrig war, auch noch Campbell. Baba fuhr den Bus, trank heißen Tee aus seiner Thermosflasche, und ich dirigierte ihn zu unseren Zielen.
Wir kauften Krimskrams, den die Leute nicht mehr haben wollten. Wir feilschten um alte Nähmaschinen, einäugige Barbiepuppen, Holztennisschläger, Gitarren mit fehlenden Saiten und alte Staubsauger von Electrolux. Bis zum Nachmittag hatten wir den hinteren Teil des VW mit altem Krempel gefüllt. Und sonntags fuhren wir dann morgens in aller Frühe nach San Jose zum Trödelmarkt, mieteten uns einen Platz und verkauften das Zeug mit einem kleinen Gewinn: Eine Schallplatte von Chicago, die wir am Vortag für einen Vierteldollar gekauft hatten, ging vielleicht für einen Dollar weg, oder wir bekamen vier Dollar für ein Fünfer-Set; eine klapprige alte Singer-Nähmaschine, die wir für zehn Dollar erstanden hatten, konnte nach einigem Handeln auch schon einmal 25 Dollar einbringen.
In dem Sommer mieteten afghanische Familien bereits einen ganzen Abschnitt des Trödelmarktes von San Jose. Afghanische Musik spielte in den Reihen des Abschnitts, wo gebrauchte Artikel verkauft wurden. Es gab einen unausgesprochenen Verhaltenscodex unter den Afghanen dort. Man begrüßte den Kerl auf der anderen Seite des Gangs, man lud ihn zu einem Häppchen Kartoffel-fro/am oder etwas qabuli ein und plauderte ein wenig. Man bot tassali an oder bekundete sein Beileid zum Tod eines Elternteils, gratulierte zur Geburt eines Kindes oder schüttelte traurig den Kopf, wenn sich die Unterhaltung Afghanistan und den Roussi zuwandte - was sie zwangsläufig irgendwann tat. Aber niemals kam die Sprache auf die Samstage. Denn dann hätte es passieren können, dass sich der nette Kerl auf der anderen Seite des Gangs als der Typ entpuppte, den man erst gestern an der Freeway-Abfahrt geschnitten hatte, um vor ihm bei einem viel versprechenden Garagenverkauf anzukommen.
Das Einzige, was in diesen Gängen mehr floss als der Tee, war afghanischer Klatsch und Tratsch. Hier auf dem Trödelmarkt trank man seinen grünen Tee mit Mandel-kolchas und erfuhr, wessen Tochter eine Verlobung gelöst und mit ihrem amerikanischen Freund durchgebrannt war oder wer früher in Kabul Parchami - ein Kommunist - gewesen war und wer ein Haus mit Schwarzgeld gekauft hatte, während er von der Fürsorge lebte. Tee, Politik und Skandale, das waren die Zutaten eines afghanischen Sonntags auf dem Trödelmarkt.
Ich verkaufte manchmal am Stand, wenn Baba die Reihen entlangschlenderte, die Hände respektvoll gegen die Brust gepresst und die Leute grüßend,
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