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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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würde, wie sie barfuß auf dem Boden kniete und die Kisten mit vergilbten Enzyklopädien zurechtschob. Ihre weißen Fersen hoben sich dabei vom Asphalt ab, und silberne Armreifen klimperten
    an ihren schmalen Handgelenken. Ich dachte an den Schatten, den ihr Haar auf den Boden warf, wenn es von ihrem Rücken zur Seite rutschte und wie ein Samtvorhang herunterhing. Soraya. Prinzessin des Trödelmarktes. Morgensonne meiner yelda.
    Ich erfand Entschuldigungen - die Baba mit einem schelmischen Grinsen akzeptierte -, um die Reihen entlangzulaufen und am Platz der Taheris vorbeizugehen. Ich winkte dem General zu, der ständig seinen glänzenden, zu oft gebügelten Anzug trug, und er winkte zurück. Manchmal stand er von seinem Klappstuhl auf, und wir plauderten über meine Schriftstellerei, den Krieg, wie der Handel lief. Und dabei musste ich immer meine ganze Willenskraft aufbringen, um meine Augen davon abzuhalten, sich zu lösen, davonzuwandern zu der Stelle, wo Soraya in ihrem Taschenbuch las. Wenn der General und ich uns verabschiedeten und ich davonging, versuchte ich, nicht zu schlurfen.
    Manchmal saß sie allein da, während der General sich irgendwo in einer anderen Reihe aufhielt, um sich zu unterhalten, und ich ging vorüber, tat so, als kenne ich sie nicht, und brannte doch so sehr darauf, sie kennen zu lernen. Manchmal war auch eine beleibte Frau mittleren Alters mit blasser Haut und rot gefärbtem Haar bei ihr.
    Ich schwor mir, dass ich noch vor dem Ende des Sommers mit ihr reden würde, aber das College begann wieder, die Blätter färbten sich rot und gelb und fielen herab, die Regenfälle des Winters zogen heran, und Babas Gelenke meldeten sich, die Blätter wurden wieder grün, und ich hatte immer noch nicht den Mut gefunden, ihr auch nur in die Augen zu blicken.
    Das Frühlingssemester des Jahres 1985 ging im Mai zu Ende. Ich schloss all meine Kurse mit Erfolg ab, was ein kleines Wunder war, da ich im Unterricht meist nur dasaß und an Sorayas hübsche kleine Hakennase dachte.
    Und dann, an einem heißen Sonntag in jenem Sommer, waren Baba und ich wieder einmal auf dem Trödelmarkt, saßen an unserem Stand und fächelten uns mit Zeitungen Luft zu. Trotz der Sonne, die sich wie ein Brandeisen in die Haut drückte, war der Markt an jenem Tag sehr gut besucht, und wir verkauften nicht schlecht - es war erst halb eins, und wir hatten bereits 160 Dollar verdient. Ich stand auf, streckte mich und fragte Baba, ob er eine Cola wolle. Er antwortete, dass ihm die sehr willkommen wäre.
    »Nimm dich in Acht, Amir«, sagte er, als ich losgehen wollte.
    »Wovor denn, Baba?«
    »Ich bin kein ahmaq, also versuche nicht, mich für dumm zu verkaufen.« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
    »Vergiss eins nicht«, sagte Baba und zeigte auf mich. »Ein paschtunischer Mann ist ein Paschtune durch und durch. Er hat nang und namoos.« Nang. Namoos. Ehre und Stolz. Die Dogmen paschtunischer Männer. Besonders, wenn es um die Keuschheit einer Frau geht. Oder einer Tochter.
    »Ich will uns doch nur etwas zu trinken holen, das ist alles.«
    »Bring mich nur nicht in Verlegenheit, mehr verlange ich nicht.«
    »Werde ich nicht. Du liebe Güte, Baba.«
    Baba zündete sich eine Zigarette an und begann sich wieder Luft zuzufächeln. Ich ging anfangs Richtung Getränkebude, bog dann aber am T-Shirt-Stand ab, wo man sich für fünf Dollar das Gesicht von Jesus, Elvis, Jim Morrison oder die von allen dreien auf ein weißes Nylon-T-Shirt drucken lassen konnte. Mariachi-Musik ertönte irgendwoher, und es roch nach sauer eingelegtem Gemüse und gegrilltem Fleisch.
    Ich entdeckte den grauen Van der Taheris zwei Reihen von der unseren entfernt neben einem Stand, wo Mangos am Stiel verkauft wurden. Soraya war allein und las. Heute trug sie ein knöchellanges weißes Sommerkleid. Offene Sandalen. Ihr Haar war zurückgebunden und zu einem tulpenförmigen Knoten hochgesteckt. Eigentlich wollte ich einfach wie immer vorbeigehen und dachte auch, ich hätte es getan, aber plötzlich stand ich am Rande des weißen Tischtuchs der Taheris und starrte über Lockenstäbe und alte Krawatten zu Soraya hinüber. Sie blickte auf.
    »Salaam«, sagte ich. »Tut mir Leid, dass ich Sie störe.«
    »Salaam.«
    »Ist der General Sahib heute hier?«, fragte ich. Meine Ohren brannten. Ich brachte es nicht fertig, ihr in die Augen zu sehen.
    »Er ist dort langgegangen«, sagte sie. Zeigte nach rechts. Der Armreifen rutschte ihr bis zum Ellbogen herunter, Silber

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